Samstag, 29. Februar 2020

Sozialneid





Wer trotz ihrer Diskreditierung auf der Gesellschaftlichkeit menschlicher Existenz beharrt und die Teilhabe aller am sozialen Reichtum fordert, wird mit dem neoliberalen Kampfbegriff des "Sozialneids" konfrontiert, der sich besonders gegen Personen richtet, welche die Einkommen der Reichen und Superreichen thematisieren, die ihrerseits ständig verkünden, "wir alle" müssten "den Gürtel enger schnallen", während sie sich selbst schamlos die Taschen füllen.
"Sozialneid" ist die Abwehrfigur der "wasserpredigenden Weintrinker" (Beck/Meine, 1998, S. 10), die sich bei ihrem Gelage ertappt sehen.

Da die rücksichtslose Bereicherung der ökonomisch Stärkeren zugleich die Armut der Schwachen produziert, reicht Hayeks "einfach nötige Ungleichheit" als Legitimationsgrundlage nicht aus und man versucht sie mit dem Feindbildes des "Neiders" abzusichern. Ähnlich der Losung "Leistung" müsse sich "wieder lohnen", die nur diejenigen zu "belohnen" gedenkt, die ihren Reichtum aus der Arbeit anderer ziehen, verrät der "Sozialneid" seine Zugehörigkeit zum Arsenal einer offensiver werdenden Klassensprache von oben, mit deren Hilfe der gesellschaftliche Reichtum immer weiter nach dort umverteilt werden soll.

Dabei geht es nicht "nur" um die Diskreditierung sozialer Gerechtigkeit, die als "sinnlos" verschwinden soll, sondern um den Versuch, dieäußerst gefährliche Vorstellung zu etablieren, es gäbe keinen Anspruch auf Teilhabe am Gemeinwohl.

Eine Vorahnung der hier heraufziehenden Brutalisierung vermittelt die Forderung, Sozialleistungen nur an "wirklich Bedürftige" auszuzahlen. Als deren Kriterium führte der damalige Gesundheitsminister Seehofer 1997 den Begriff der "Wäschewechselhäufigkeit" ins sprachliche Repertoire der "geistig­moralischen Wende"ein.

Seehofer, damals Empfänger monatlicher Bezüge von mindestens 25 000 Mark, wollte damit regeln, wieviele Unterhosen Sozialhilfeempfänger (monatliche Bezüge: 525 Mark) besitzen dürfen, um als "wirklich bedürftig" zu gelten. Neben den Betroffenen selbst, denen einmal mehr die demütigende Forderung nach völliger Anspruchslosigkeit überbracht wird, sind hier alle von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg Bedrohten angesprochen, also weite Teile der Bevölkerung bis in die Mittelschichten hinein.

Ihnen wird mit solchen Botschaften die Möglichkeit gegeben, die eigene Angst vor drohender Armut und Ausgrenzung projektiv abzuwehren. Die diskursive Rede vom "Sozialneid" gehört damit zu den Herrschaftstechniken, die mit dem Schüren von Angst und Schuldgefühlen versuchen, normale Lebensbedürfnisse der Menschen mit der Aura des Anstößigen zu versehen, während zugleich die Medien der "Besserverdienenden" über deren "neuen Spaß am Luxus" berichten (Focus, 26.5.1997).
Es geht auch hier nicht "nur" um die Abwehr tagespolitischer Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, sondern um die Formierung von Subjekten, dienicht die Gier gesellschaftlicher Eliten nach grenzenloser Bereicherung (und ein System, das dieseermöglicht) als Gefahr erkennen, sondern ihre eigenen Lebensregungen für illegitim und bedrohlich haltensollen ­ bis hin zur Unterwäsche. Aus Denkgifte: https://www.kritische-psychologie.de/files/tg2000a.pdf?fbclid=IwAR2kR-_q6j4gFBQH5NkGNNqvViHuLNwOGkmkNiRq9yeogY_pOypteZ-M-8w

1 Kommentar:

  1. Dieser Herr (ich sehe kein Fernsehen, darum kenne ich ihn nur vom Hörensagen) bezieht sich auf den weltweiten Rahmen. Da ist es in der Tat so, dass es abseits der westlichen weissen Länder oft keine Sozialsysteme gibt...nur die Familie. Wenn Politiker globalisieren wollen, dann werden diese unterschiedlichen Systeme in der Tat zum Problem, vor allem wenn man die Steuergelder in den Sozialsystemen nicht als vom Steuerzahler erarbeitetes Eigentum sieht. Die einen, sofern sie ihr Umfeld verlassen, können dann plötzlich was holen, die anderen verlieren ihre angesparte Existenzgrundlage. Lachender Dritter ist der Machtapparat, der die Macht der Vielen reduzieren möchte - durch Abschaffung des Sozialstaats per Überbeanspruchung von fremden nicht anspruchsberechtigten Gruppen. Soweit so gut. Das Perfide an der Argumentation dieses Herren ist für mich das Ausblenden dieser Tatsachen zugunsten einer moralischen Argumentation, die im Grunde völlig absurd ist: Wenn er z.B. ein Auto kauft, muss er dann "dankbar" für das Auto sein, ist es denn so, dass seine Ansprüche dann nicht gerechtfertigt sind? Die "Wutbürger" zahlen viele Steuern für ihre Absicherung ( in Vietnam haben die Leute dafür sehr grosse Grundstücke auf dem Land, wo sie in Krisenzeiten Lebensmittel für sich anbauen können, aber keine nennenswerte Rente). Diese Form der Absicherung ist jahrzehntelanger Konsens. Die Deutschen wollen kein amerikanisches System, sie legen Wert auf gesellschaftliche Stabilität und auf die Beachtung des Gemeinwohls. Dafür zahlen sie. Statt nun das Verbrechen der Eliten zu thematisieren (es ist eine völlig andere Sache, einen festgelegten Teil des Staatsbudgets zur echten Friedensarbeit und Völkerhilfe zu verwenden), erzählt er was von Anspruchsdenken und Dankbarkeit. Das ist so völlig daneben. Seine Argumentation würde nur dann greifen, wenn hier keine Steuern bezahlt würden und uns das Sozialsystem von Aliens geschenkt worden wäre. Jedoch sollte man diesen Herren nicht mit (ohnmächtiger) Wut begegnen, sondern das Absurde ihrer Argumentation offenlegen. Dann wird auch klar, wem sie dienen und das Publikum wird sich dann abwenden. So geht das, nicht mit Wut.

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