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Samstag, 29. August 2015

Gesellschaftspolitische Entscheidungen zum Gemeinwohl treffen nicht etwa 100 % – NEIN, es sind 0,001 %

Die Politik der USA wird von ca. 400 Personen bestimmt, deren gemeinsames Vermögen in Billionen Dollar berechnet wird, so Lawrence Wilkerson, der Stabschef des früheren US-Außenministers Colin Powell. Diese Nicht-Berücksichtigung von über 99,99% Bevölkerung in politischen Entscheidungen wurde ebenfalls vor kurzem in einer Studie der Universität Princeton belegt.

Gefunden bei statusquo
Der Ex-Diplomat Lawrence Wilkerson ist überzeugt, dass die staatlichen Prozesse in den USA von 0,001 Prozent der Landesbevölkerung geleitet werden.
Gerade die Oligarchen sind es, die alle Prozesse hinter den Kulissen leiten

sagte er dem Radiosender Baltcom.
In den USA gibt es etwa 400 Menschen, deren gemeinsames Vermögen Billionen Dollar übersteigt. Es ist eine unverschämte, entwürdigende Art, den Reichtum im Land zu verteilen. Es ist eine schreiende Ungleichheit. Die Macht ist in den Händen von ca. 0,001 Prozent der Menschen.
fügte Wilkerson hinzu.
Der 60-Jährige war 16 Jahre lang einer der engsten Mitarbeiter Colin Powells, von 2002 bis 2005 als dessen Büroleiter im Außenministerium. Der Oberst a. D. diente im Vietnam-Krieg, später wurde er stellvertretender Leiter des Marine War College in Quantico, US-Bundesstaat Virginia.
In repräsentativen Demokratien müssen die Interessen der Bevölkerung von der Politik berücksichtigt werden. Das Prinzip politischer Gleichheit verlangt zudem, dass nicht nur die Interessen einiger weniger, sondern die Interessen aller Repräsentierten gleichermaßen Einfluss auf die politischen Entscheidungen der Regierenden haben.
In den letzten Jahren haben verschiedene US-amerikanische Studien gezeigt, dass die Meinung sozial schlechter gestellter Gruppen kaum Einfluss auf politische Entscheidungen hat, politische Entscheidungsträger sich aber sehr wohl an den Meinungen der bessergestellten orientieren. Ihre Befunde haben eine Debatte über den Zusammenhang von ökonomischer Ungleichheit und politischer Repräsentation ausgelöst, die hierzulande noch viel zu wenig geführt wird.

Wessen Stimme zählt?

Martin Gilens, Professor in Princeton und Autor des Buches „Affluence and Influence“, hat in einer breit angelegten empirischen Studie über US-amerikanische Politik gezeigt, dass der Einfluss von Menschen aus mittleren und unteren Einkommensschicht auf politische Entscheidungen der Regierung verschwindend gering sind.

Für seine Untersuchung wertete er fast 1800 repräsentative Umfragen aus, die zwischen 1981 und 2002 durchgeführt wurden und jeweils nach der Zustimmung oder Ablehnung zu einer aktuell diskutierten Politikänderung fragten.


So wurde beispielsweise nach der Zustimmung (bzw. Ablehnung) zu einer Erhöhung des Mindestlohnes oder zu einer verpflichtenden Krankenversicherung durch Arbeitgeber gefragt. Insgesamt decken die Fragen verschiedene Politikbereiche ab und spiegeln mehr oder weniger die Spannbreite an Themen wieder, die während des Untersuchungszeitraums auf der politischen Agenda waren und öffentlich diskutiert wurden.

Der Autor vergleicht die in den Umfragen geäußerten Meinungen mit den politischen Entscheidungen, die bis zu vier Jahre nach der jeweils gestellten Umfrage getroffen wurden. In einer weiterführenden Studie wird neben der Meinung der Befragten aus verschiedenen Einkommensgruppen zudem noch erhoben, wie viele organisierte Interessensgruppen für oder gegen den jeweiligen Reformvorschlag positioniert waren, um auch den Einfluss von Interessengruppen auf politische Entscheidungen zu erfassen.

Der erste Teil der Ergebnisse ist erstmal wenig überraschend: insgesamt werden Reformen häufiger dann durchgesetzt, wenn ein größerer Anteil der Bevölkerung sie befürwortet. So weit, so gut. Spannend wird es dann, wenn sich die Meinung der oberen Einkommensschichten von der der mittleren und unteren Einkommensschichten deutlich unterscheidet. Mit anderen Worten: wessen Stimme zählt, wenn Arm und Reich nicht dasselbe wollen?

Das Ergebnis der Studie ist so deutlich wie erschreckend. Wenn sich die Interessen zwischen den Einkommensgruppen unterschieden, so folgt die Politik häufig den Einkommensstarken, die Anliegen der Einkommensschwachen bleiben unberücksichtigt.

Zudem finden die Autoren einen deutlichen Einfluss von organisierten Interessensgruppen auf Politikentscheidungen. Die folgende Grafik veranschaulicht diesen Zusammenhang:

Zusammenhang zwischen Präferenzen und Politikwandel, nach Einkommensgruppen (90-Prozent Perzentil und Median-Einkommen) und Interessensgruppen


"Macht in den Händen von 0,001 Prozent": US-Diplomat und Princeton-Studie belegen Ungleichheit
© American Political Science Association 2014 bei Cambridge University Press Quelle: Gilens, Martin/Benjamin I Page, 2014: Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens. In: Perspectives on Politics 12, 564-581.
Erläuterungen zur Grafik:
obere Grafik:
  • Auf der x-Achse ist der Prozentsatz derjenigen Befragten mit Median-Einkommen abgetragen, die einen Politikwandel befürworten (bspw. die Erhöhung des Mindestlohns).
  • Auf der y-Achse ist die Wahrscheinlichkeit abgetragen, dass dieser Politikwandel eintritt (wenn die Präferenzen der Reichen und der Interessensgruppen konstant und zum Politikwandel neutral gehalten werden).
  • Die schwarze Linie gibt den Zusammenhang zwischen dem Anteil der Befürworter und der Wahrscheinlichkeit für Politikwandel an.
  • Die flache Kurve bedeutet, dass es für die politische Entscheidung für oder gegen eine Reform keinen Unterschied macht, wie viel Prozent der „Durschschnittsbürger“ sie befürworten.
mittlere Grafik:
  • Auf der x-Achse ist der Prozentsatz der Befürworter am 90-Prozent Perzentil der Einkommensverteilung.
  • Im Gegensatz zu dem „Durchschnittsbürger“ gibt es hier einen deutlichen Zusammenhang: je höher der Anteil der Befürworter*innen zu einer Politikänderung, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass diese auch eintritt.
untere Grafik:
  • Ähnliches wie in mittlerer Grafik gilt auch für organisierte Interessensgruppen.
  • Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer positiven Stellungnahme zu einem vorgeschlagenen Politikwandel und dessen Eintreten.

Einfluss durch Geld?

Die Ergebnisse dieser Studien haben unter anderem eine Debatte um die Mechanismen ausgelöst, die für den ungleichen Einfluss verantwortlich sind. Gilens selbst sieht vor allem im Wahlsystem der USA das Problem, da Wahlkämpfe und politische Kampagnen privat finanziert werden und Kandidaten dadurch entweder selbst sehr vermögend sein müssen und/oder von großen Spenden abhängig sind.
Dies wird schnell offensichtlich, wenn man sich die Einkommen der Mitglieder des Kongresses anschaut: über die Hälfte der Abgeordneten sind Millionäre – das Durchschnittsvermögen der Senatsmitglieder betrug 2012 sogar 2,8 Millionen Dollar (OpenSecrets.org).
Mit jeder Wahl werden die Wahlkampagnen teurer und Großspenden von Einzelpersonen wichtiger – Geld scheint also eine immer größere Rolle im politischen Wettstreit zu spielen.
Ob private Wahlkampffinanzierung als Erklärung ausreicht, ist allerdings fraglich. Auch in Europa, wo Wahlkämpfe vielerorts zu großen Teilen öffentlich finanziert werden, sind in den letzten Jahren viele Reformen verabschiedet worden, die zulasten unterer und mittlerer Einkommensschichten gehen.

Wahrscheinlicher ist deshalb, dass sich Ungleichheit auch über andere Kanäle in Politikergebnisse im Interesse der bessergestellten übersetzt. Die Befunde aus den USA sollten deshalb eher als Anregung dienen, auch hier eine systematische Debatte um Ungleichheit und Repräsentation anzustoßen und nach konkreten Mechanismen politischer Einflussnahme zu fragen.

URSPRÜNGLICH ERSCHIENEN verteilungsfrage.org

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