Dienstag, 20. Oktober 2015

Was Charles Darwin uns alles verheimlichte

Quelle:P.M. MAGAZIN Nr. 4/2002 

von: Peter Ripota

Jeder nur für sich und alle gegen alle. Die Evolution ist ein gnadenloser Kampf, den nur die Tüchtigsten überleben. Mit dieser Idee gehört der Darwinismus zu den erfolgreichsten Theorien in der Geschichte der Wissenschaft. Bis heute. Doch viele Tatsachen in der Natur sprechen gegen ihn. Lassen etwas ganz anderes erkennen. Schon Darwin wusste es. Aber er schwieg. Warum? Und was ist es, das wir nicht erfahren sollten?

Noch immer wird dieses Dogma verkündet: Die Evolution der Lebewesen wird bestimmt durch den Kampf ums Dasein – und die natürliche Auslese führt zur Höherentwicklung der Lebewesen. Bei diesem Kampf überleben nur die Tüchtigsten. So präsentiert sich die Darwinsche Evolutionslehre. So oder ähnlich formulierten Darwin, seine Mitstreiter und Nachfolger jenen Entwicklungsprozess, der eine unübersehbare Fülle an Lebensformen schuf. Eine bestechende Lehre, die sich scheinbar täglich bewahrheitet.

Tatsächlich aber sagt Darwins Lehre nur die halbe Wahrheit; eine halbe Wahrheit jedoch bedeutet ebenfalls: Irrtum. Und Darwin wusste es. Doch er schwieg – und der »Darwinismus« feierte Triumphe. Weil man ihn in dieser Zeit dringend brauchte: Diese Lehre, die das Lob des Tüchtigen sang und den ständigen Kampf um Vorherrschaft zum Naturgesetz erhob, war die willkommene Rechtfertigung für den wieder erstarkten Monarchismus, für den immer aggressiver werdenden Kolonialismus und den aufstrebenden Frühkapitalismus. Denn wenn es die Natur will, dass die Tüchtigen, die Starken, überleben, dann konnte man mit ruhigem Gewissen die Schwachen unterdrücken und ausbeuten. Sogar ausrotten – wie es später tatsächlich geschah. Wie kam es dazu?
Im Jahr 1859 veröffentlichte Charles Darwin sein Werk »Über den Ursprung der Arten durch natürliche Auslese, oder die Bewahrung begünstigter Rassen im Kampf ums Überleben«. Das Buch machte Furore. Nicht wegen der darin beschriebenen Evolutions- und Abstammungslehre; die waren schon vorher bekannt gemacht worden durch den Franzosen Lamarck und Darwins Zeitgenossen Robert Chambers, der 15 Jahre zuvor sein Werk »Spuren der Naturgeschichte der Schöpfung« veröffentlicht hatte. Das Bemerkenswerte an diesem Buch, das Darwin sehr wohl kannte und von Herzen verachtete: In Chambers’ Welt haben alle Lebewesen, ob stark oder schwach, ihren Platz, ihre Berechtigung und ihre Würde.

Eine solche Idee mochte gut und schön sein für den Sonntagsgottesdienst, aber eine Kolonie ließ sich damit nicht erobern; auch als Rechtfertigung von Unterdrückung und Ausbeutung versagte sie kläglich. Da war Darwins Lehre vom erbarmungslosen Kampf ums Dasein, in dem der Schwache - bedauerlicherweise! - untergeht, sehr viel hilfreicher. Die Idee dazu kam Darwin nach eigener Aussage bei der Lektüre eines Buches des englischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Malthus (1766 – 1834). Der meinte, dass es bald zu einer Hungerkatastrophe kommen werde, denn die Menschheit wachse geometrisch (1, 2, 4, 8 ...), der Vorrat an Nahrungsmitteln aber nur arithmetisch (1, 2, 3, 4 ...). Diese Behauptung war falsch, aber Darwin glaubte sie - und so beruht die Initialzündung für den Darwinismus auf einem Irrtum. Doch Darwin schrieb unbeirrt: »Ein Kampf ums Dasein tritt unvermeidlich ein infolge des starken Verhältnisses, in welchem sich alle Organismen zu vermehren streben.« Seine, Darwins Lehre, sei nichts anderes als »die Lehre von Malthus, in verstärkter Kraft auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich übertragen«.

Das Schlagwort vom Kampf ums Dasein stammt von Darwin; die berühmte Formel vom Überleben des Tüchtigsten (»survival of the fittest«) prägte der autodidaktische Philosoph Herbert Spencer, doch Darwin übernahm sie später. Auf die Bedeutung des Begriffes »fit« kommen wir noch zu sprechen.
Darwins spezielle Ausprägung der Evolutionstheorie hat also ihren Ursprung in den Überlegungen eines Wirtschafts- wissenschaftlers (Th. Malthus), und das erklärt auch ihren rasanten Erfolg. Der Frühkapitalismus nahm Darwins Idee dankbar auf, denn sie gab ihren Segen für rücksichtslose Profitmaximierung, gnadenlosen Konkurrenzkampf - wer dabei auf der Strecke blieb, war eben nicht »fit« und gehörte nicht zu den »Begünstigten«. Der Darwinismus bot eine fabelhafte Entschuldigung für jeden, der bereit war, über Leichen zu gehen.

Wo Verachtung für die Schwachen erlaubt ist, blüht der Hochmut der vermeintlich Starken. 1864 schrieb ein anderer Mit-Erfinder der Evolutionslehre, Alfred Russel Wallace (1823 – 1913): »Die geistig und moralisch höher stehenden müssen die tiefer stehenden und minderwertigen Rassen ersetzen.«

Dies geschieht durch natürliche Auslese, die - so der deutsche Evolutionsforscher Ernst Haeckel (1843 – 1919) - das einzige wissenschaftliche Prinzip sei, das die Entwicklung des Lebens, der Gesellschaft und des Geistes beherrsche.

Jetzt war es nur noch ein kleiner Gedankenschritt – nach Auschwitz. Der deutsche Arzt Alfred Ploetz (1860 – 1940) erklärte in seiner »Rassenhygiene«: Da die natürliche Auslese nicht immer so funktioniere, wie es höher stehende Rassen gern hätten, müsse sie durch eine künstliche Auslese verstärkt werden. Und so geschah es denn auch in Deutschland: »Unwertes Leben« wurde vernichtet. Kein Zufall auch: Der Prozess, bei dem Ärzte in den Konzentrationslagern der Nazis gleich an der Bahnrampe die »Untauglichen« auswählten und in die Gaskammern schickten, hieß offiziell »Selektion«, deutsch: Auslese. So weit war es mit dem Darwinismus gekommen. Darwin hat die fatale Entwicklung seiner Idee sicherlich nicht vorausgesehen - und gewiss nicht gewollt. Aber es ist geschehen.

Es konnte deshalb geschehen, weil unklare Aussagen mühelos gedreht, verdreht und missbraucht werden können. So erging es auch Darwins Lehre – weil sie nur die halbe Wahrheit zeigt und darum voll ist von Widersprüchen und Unstimmigkeiten, unklar eben.
Beginnen wir mit dem Problem, die Verzierungen diverser Männchen (Pfau, Löwe, Hirsch) zu erklären. Denn: je prachtvoller Schwanz/Mähne/Geweih, desto geringer die Überlebenschance. Der Pfau kann nicht mehr fliegen und wird gefressen, der Löwe kann nicht mehr selbst jagen und verhungert, und der Hirsch wird vom Gewicht und vom Nahrungsbedarf seines Kopfschmucks erdrückt. Dennoch haben sich derartige Attribute herangebildet - im Widerspruch zur Lehre von der natürlichen Auslese, d. h. von der »Begünstigung« durch die Natur. Diese Unstimmigkeit fiel bereits Darwin auf, und er ersann deshalb einen neuen Ausleseprozess, den er »sexual selection« nannte, man kann auch sagen: Damenwahl.

Will heißen, der prächtige männliche Schmuck soll den Damen imponieren und ihnen die Wahl erleichtern. Das funktioniert in der Tat. Von Spatzen weiß man inzwischen, dass Männchen mit auffallend roten Beinen von den Weibchen bevorzugt werden. Im folgenden Jahr sind es vielleicht grüne Beine, denn auch Spatzen gehen mit der Mode. Wie auch immer, die Attraktivität des Männchens lässt beim Weibchen den männlichen Hormonspiegel steigen, wodurch die Eischale besser wird und sich die Chance des Austragens erhöht. Aber: Forschungen an der James Cook University in Queensland (Australien) haben ergeben, dass diese »sexuelle Selektion« keineswegs zu besseren Nachkommen führen muss. Das Gegenteil kann eintreten: Bei Guppies (Zierfischen) geben die Weibchen besonders schön gemusterten Verehrern den Vorzug. Doch die schönsten Männchen tragen eine schwere genetische Last. Die Farb-Gene für die Musterung liegen offenbar auf dem Y-Chromosom in einem Abschnitt, der schädliche Mutationen trägt. Mit steigender Attraktivität verringert sich die Chance des Nachwuchses, zu überleben und selbst wieder Nachkommen zu zeugen. Fazit: Letztlich führt die Damenwahl hier ins Verderben.

Ein weiterer Punkt, den die Selektionsanhänger nicht erklären können, ist der Altruismus, also die Hintanstellung der eigenen Bedürfnisse bis hin zur selbstlosen Aufopferung, die so weit gehen kann, dass auf eigenen Nachwuchs verzichtet wird. Eklatantes Beispiel: Ameisen, Bienen, Termiten. Bei ihnen vermehrt sich nur ein einziges Individuum, die »Königin«; alle anderen Mitbewohner des Staates dienen ihr. Vom Streben aller Organismen, sich zu vermehren (Darwin), kann keine Rede sein. Einer der gängigen Erklärungsversuche dieses Widerspruchs: Es mache durchaus Sinn, weil dadurch das Überleben der miteinander verwandten Gruppe gesichert wird. Indes: Hintanstellung eigener Bedürfnisse kommt auch bei Tieren vor, die nicht miteinander verwandt sind. So übernehmen gelegentlich zwei Löwen gemeinsam ein Rudel; sie vertreiben den bisherigen Pascha und teilen sich die Weibchen. Der Nachwuchs des Rudels trägt, zufällig verteilt, die Gene beider Väter. Diese Männchen (in vielen Fällen nicht miteinander verwandt!) sind sich zufällig begegnet, haben sich gegenseitig schätzen gelernt und schließlich (wenn man es sich denn so vorstellen will) im Schatten eines Baumes ausgeknobelt, wer welche Haremsdame kriegt – in aller Freundschaft. Ganz ruhig, ohne Kampf und ohne jedes Beharren darauf, der Größte, Stärkste und Beste zu sein – was dazu privilegieren soll, alle zu kriegen. Wieso halten sich diese Löwen nicht daran?

Damit sind wir bei der nächsten unklaren Sache: Sex – ein bei allen höheren Lebensformen verbreitetes Phänomen. Tatsache ist, dass der »Reproduktionserfolg« bei der ungeschlechtlichen Vermehrung viel größer ist als bei der geschlechtlichen – und somit für das Darwin’sche »Streben nach Vermehrung« eigentlich am geeignetsten ist. Warum dann dieser Zeit- und Energie aufwändige Sex? Die Erklärung der Darwinisten: Sex ermöglicht eine immer neue Zusammensetzung der Gene und gewährleistet so die Vielfalt. Doch wenn dieser Gen-Mix tatsächlich ein Vorteil wäre, käme er nicht zum Tragen, weil die Vielfalt bei ungeschlechtlicher Vermehrung sich sehr viel schneller durchsetzt. Die These von der natürlichen Auslese kann gar nicht greifen. Und: Wenn denn tatsächlich das Streben nach Vermehrung eine so große Rolle spielt, warum hat dann die Natur uns Menschen nicht so begünstigt wie die Wasserflöhe. Die machen’s auf beide Arten: geschlechtlich und ungeschlechtlich – und sind damit ungeheuer erfolgreich.

Der Darwinismus, eine Lehre, die mehr Fragen aufwirft, als sie erklärt. Und doch hält man bis heute an ihr fest und bestätigt ihr ein hohes Maß an Wissenschaftlichkeit. Zweifellos ist es das Verdienst Darwins und seiner Vorgänger, aufgezeigt zu haben, dass sich Lebensformen verändern – ebenso Berge, Kontinente und der Kosmos. Ganz neu war diese Erkenntnis freilich nicht; schon die Griechen wussten, dass alles fließt (Heraklit) und sich wandelt. Problematisch aber wird es für die Darwin’sche Lehre, wenn sie den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt. In der Wissenschaft muss man etwas messen oder bestimmen können; bei Darwin bietet sich hierfür der Begriff der »Fitness« als Maß für die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Individuums. Schon früh wurde bemerkt, dass die Fitness-Definition tautologisch ist, also leer. Denn: (A) Wer fit ist, überlebt. (B) Wer überlebt, ist fit. Mithin gilt: A = B und B = A. So etwas heißt Zirkeldefinition. Selbst dann, wenn dieses »fit« konkret definiert wird (passend, geeignet, stark, tüchtig, schlau),kommen wir nicht weiter.

Dazu ein Beispiel: Auf einer Insel nahe den Galapagos-Inseln gedieh eine üppige Vegetation, in der zahlreiche Finkenarten lebten (die schon Darwin untersucht hatte!), die sich von unterschiedlichen Samenkörnern ernährten. Dann kam »El Niño«, eine Dürreperiode; die Pflanzen verdorrten, die Vögel hatten nichts mehr zu fressen. Was ist aus ihnen geworden? Nach dem Prinzip der natürlichen Auslese hätten nur die Finken überlebt, welche die größten Schnäbel hatten, denn die konnten große und kleine Kerne knacken; für die Vögel mit den kleinen Schnäbeln wäre nichts oder zu wenig übrig geblieben. So ähnlich war es auch – zunächst. Doch dann blühten und gediehen alle Finken in unerhörter Pracht, obwohl die Insel völlig kahl geworden war. Wie das? – El Niño, der warme Meeresstrom, hatte den Gewässern zahlreiche Fische gebracht, die wiederum viele Fischvögel anlockten wie z. B. Tölpel. Die ließen sich auf der Insel nieder und machten ihrem Namen alle Ehre. Wenn nämlich das Ei eines Tölpels ein paar Zentimeter verrutscht war, erkannten es die Eltern nicht mehr und ließen es liegen – zum Nutzen der Finken. Die cleveren Kleinvögel ersannen auch bald Methoden, dieser Vergesslichkeit ein wenig nachzuhelfen: Sie rollten das Ei weg. Manchmal gelang es einem der Finken, das große Ei zu einer Klippe zu bugsieren und hinunterzuwerfen; es platzte, und der kleine Held hatte ein Festmahl, zu dem selbstverständlich alle Freunde eingeladen waren. Die kleinen Körnerfresser mutierten schließlich sogar zu Vampiren: Sie pickten die riesigen Ohren der Tölpel-Jungen an und saugten ihnen Blut ab. Die merkten nicht einmal was davon, und so waren alle zufrieden – und lebten herrlich und in Freuden.

Was ist da passiert? Die Starken haben überlebt, stimmt – aber auch die Schwachen. Also waren sie alle »fit«? Oder gleichermaßen »fit«? Aber alle »Fitness« hätte nicht geholfen, wenn die Tölpel nicht gekommen wären, die zufällig so vergesslich sind, dass man ihre Eier klauen kann – und außerdem noch so geduldig, dass man ihr Blut trinken kann. Niemand hätte den Erfolg der kleinen Hüpfer voraussagen können. Doch wozu ist eine Theorie gut, die keine Prognosen zulässt, keine messbaren Begriffe kennt und sich dem Kriterium der »Falsifizierung« verweigert?

Reinhard Eichelbeck charakterisiert die Darwin’schen Ideen in seinem Buch »Das Darwin Komplott« so: »Der ›Darwinismus‹ hat die paranoiden Sozialneurosen der Menschen verstärkt, ihre Angst vor der ›feindlichen‹ Natur, vor den ›feindlichen‹ Nachbarn, vor den ›feindlichen‹ Bakterien, Viren, Pollen und so weiter. Er hat uns zu einem Krieg gegen die Natur verleitet, der schon längst ein Krieg gegen uns selbst geworden ist.«

Das Leben ein ständiger Kampf! Und stimmt es nicht? Wir brauchen uns doch nur die Tierfilme im Fernsehen anzuschauen. Da sehen wir, wie der Gepard die Antilope jagt und anschließend verzehrt, wenn ihm die Beute nicht von Hyänen weggenommen wird. Die wiederum werden gnadenlos von Löwen gejagt, die sich auch untereinander Kämpfe auf Leben und Tod liefern. Adler fressen Schlangen, Schlangen würgen Adler, und Riesenschlangen verschlingen schon mal ein ganzes Schwein, manchmal auch einen Menschen. Kampf überall! Dabei vergessen wir, dass auch diese Filme dem üblichen Hollywood-Schema folgen: Es muss nicht wahr sein, sondern spannend! Und zwei kämpfende Löwen sind nun mal spannender als zwei schmusende Löwen.

Wahr ist, dass es nicht einmal im Dschungel so zugeht, wie uns die Filme weismachen wollen. Der arabische Graudrossling (Turdoides squamiceps) etwa könnte derartige Filme als üble Diffamierung anklagen und käme damit wohl bei jedem Gericht durch. Bei dieser Vogelart nämlich setzen sich diejenigen durch, die nicht kämpfen, die anderen selbstlos helfen und sich für die Mitglieder aufopfern. Jeder ist äußerst zuvorkommend und hilfsbereit, man überbietet einander in Freundlichkeiten. Gewiss, es gibt eine Hierarchie: Je netter jemand ist, desto weiter schafft er’s nach oben. Die Erwachsenen ziehen gemeinsam die Jungen auf, füttern, kraulen und wärmen sich gegenseitig des Nachts, und es ist eine Ehre, den gefährlichen Posten des Wächters gegen Adler und Schlangen zu übernehmen. Diese Ehre steht eigentlich nur dem ranghöchsten Männchen zu, aber andere dürfen auch. Wie kamen die unscheinbaren Schnäpper zu ihrem Altruismus, zumal in den Gruppen keineswegs nur verwandte Individuen leben?

Der Biologe Amotz Zahavi von der Universität Tel Aviv hat die Sache untersucht. Seine Erkenntnisse gipfeln in dem erstaunlichen Satz: Altruismus ist eine egoistische Aktivität. Dieser Satz könnte aus dem Roman »1984« von George Orwell stammen; darin werden die Menschen gezielt durch »Zwiedenken« verwirrt: Krieg ist Frieden, Liebe ist Hass!

Wenn Darwin irrt und das Leben nicht oder nur zum Teil von Egoismus, Rivalität und Kampf geprägt wird, was hat dann die Evolution vorangetrieben? Die neuen Forschungsergebnisse sprechen für die so genannte K"-Idee: Nicht Egoismus, sondern Kommunikation und Kooperation (K"), also miteinander reden und zusammenarbeiten, haben uns weitergebracht. Diese K"-Idee wurde zum ersten Mal von dem russischen Anarchisten Graf Pjotr Aleksejewitsch Kropotkin zu Beginn des 20. Jh. populär gemacht. Als Armeeoffizier in Sibirien beobachtete er fünf Jahre lang die dortige Tier- und Pflanzenwelt. Ergebnis seiner Beobachtungen: Hauptfaktor für das Überleben im rauen nördlichen Klima ist nicht Rivalität, sondern gegenseitige Hilfe. Denn: »Wenn wir die Natur fragen, wer sind die Tüchtigsten – jene, die ewig miteinander Krieg führen, oder jene, die einander unterstützen –, dann sehen wir sofort, dass jene Tiere, die einander helfen, am besten angepasst sind. Sie haben bessere Chancen zum Überleben, und sie erreichen die höchste Stufe der Intelligenz und Körperstruktur.«

Auch bei Menschen machte der Sozialrevolutionär gegenseitige Hilfe als die Regel aus. Und er prophezeite eine Wandlung – hin zu kooperativen Gesellschaften, in denen jeder kreativ werden kann, ohne Einfluss von Chefs, Soldaten, Priestern und anderen Machthabern. Sehr modern ...
Den großen Durchbruch der K"-Idee verdanken wir einer Amerikanerin. Lynn Margulis wandte das K"-Konzept auch auf Zellen an. Den Biologen war schon lange ein bestimmter Bestandteil der Zellen ein Rätsel. Mitochondrien, die Energielieferanten einer jeden Zelle, besitzen nämlich eine eigene Vererbungsstruktur: Sie geben ihre Gene nur über die mütterliche Linie weiter. Margulis hat herausgefunden, dass Mitochondrien ursprünglich eigene Lebensformen waren, die von anderen Lebewesen einverleibt, aber nicht gefressen wurden. Die beiden verständigten sich (Kommunikation) und schlossen ein Bündnis zur Kooperation (Zusammenarbeit): Die größere Zelle beschützte die kleinere, diese gab dafür der größeren Energie.

Es gibt noch viele andere Beispiel für diese Art der Endosymbiose, wie z. B. die Chloroplasten der Algen (lichtempfindliche Teile, die Sonnenlicht in Energie verwandeln), oder die Hüllmembranen mancher Algen. Bei allen Lebensformen gibt es zwischen den Individuen echte Kooperation. Beispiele:

Die argentinische Ameise hat seit ihrer Einführung im 19. Jh. ganz Kalifornien erobert – ohne Kampf. Es gibt auch keine Rivalität unter den einzelnen »Stämmen«. Anderen Ameisen gegenüber verhalten sie sich tolerant und sind, Darwin zum Trotz, sehr erfolgreich.

Wenn die Lebensverhältnisse für eine bestimmte Amöbenart (Dictyostelium discoideum) schlecht werden, fressen sie sich nicht etwa gegenseitig auf, bis die Tüchtigsten übrig bleiben. Im Gegenteil: Sie schließen sich zu einer extrem kooperativen Tätigkeit zusammen. Sie bilden einen Stil (Schleimpilz-Aggregation), indem zahlreiche Individuen aufeinander klettern, bis eine Art Penis entsteht. Rund 20 Prozent der Individuen, die den Stamm dieses Stängels bilden, sterben ab, der Rest verwandelt sich in Sporen, die vom Wind vertrieben werden und – hoffentlich – eines Tages auf fruchtbare Erde treffen. Die Amöben, die den harten Kern bildeten und dabei starben, haben sich geopfert, ganz unegoistisch. (Dieses Beispiel zeigt übrigens, wie wichtig der Standpunkt ist, von dem aus man eine Sache betrachtet. Ein Darwinist würde sagen: Die Starken sind über die Leichen der Schwachen nach oben geklettert und haben überlebt.)

Die erstaunlichste Manifestation von K" sind die komplexen Städte, die von Mikroorganismen gebaut werden – in Ihrem Ausguss! Diese als Biofilme bekannten Strukturen werden von Bakterien, Algen, Pilzen und Einzellern (z. B. Pantoffeltierchen) gebaut. Sie schließen sich zu Kolonien zusammen, prüfen die Umweltbedingungen und schaffen dreidimensionale Stadtstrukturen, die in ihrer Komplexität modernen Großstädten vergleichbar sind – mit Wasserleitungen, Abwässerkanälen, Fahrrinnen und Versammlungsplätzen, alles geschaffen von Lebensformen, die unterschiedlichen Gattungen angehören, die nicht die gleiche Sprache sprechen, die dennoch ohne Rivalität gemeinsam etwas gestalten, was, wie ein Wissenschaftler einmal begeistert feststellte, aussieht »wie Manhattan bei Nacht«.

Und was den gnadenlose Kampf der Spermien um das Recht zur Befruchtung der Eizelle betrifft – eine Legende. Heute wissen wir: Alle Spermien arbeiten zusammen, bilden einen schützenden Kordon um den »Auserwählten« und helfen ihm auf dem beschwerlichen Weg zum Ziel.
Die Idee der Kooperation als treibende Kraft der Evolution und als wichtigstes Kriterium fürs Überleben hat eine erstaunliche Bestätigung aus einem ganz anderen Gebiet erhalten: aus dem Bereich der Computerwissenschaften. In einem von dem amerikanischen Politologen Robert Axelrod veranstalteten Wettbewerb von Computerprogrammen schnitt ein von Anfang an kooperationswilliges Programm namens TIT FOR TAT am besten ab.

Das Programm ahndete Betrug sofort, akzeptierte aber auch sofort den Willen zur Versöhnung. Fazit: Nicht Darwin’scher Egoismus, nicht Rivalität und gnadenloser Kampf sind die erfolgreichen Strategien der Evolution. Wirklich weitergebracht haben uns Kommunikation und Kooperation – was auch einleuchtet, denn bei Konfrontation entstehen hohe Reibungsverluste. Kooperation ist effizienter und somit auch intelligenter. Wenn also die K"-These zutrifft, was bedeutet sie dann für unser Leben?
In der Politik: Nicht rücksichtslose Durchsetzung der Interessen des eigenen Landes, sondern Zusammenarbeit der Länder. Anders sind die Probleme der Welt nicht zu lösen, erklärt der US-Politologe Benjamin Barber und fordert auch und gerade Amerika auf, »sich an das mühsame und souveränitätsschädliche Geschäft zu machen, eine kooperative und wohlwollende Interdependenz aufzubauen«.

In der Wirtschaft: Es ist Zeit, das Prinzip »Der Große schluckt den Kleinen« aufzugeben. Nicht »feindliche Übernahme« ist für die Allgemeinheit (und damit auch für den Einzelnen) nützlich, sondern Integration und Kooperation (siehe Mitochondrien). Und nicht Ellenbogen-Mentalität der Mitarbeiter macht ein Unternehmen auf Dauer erfolgreich, sondern Zusammenarbeit. Reinhard Mohn, Firmenchef des Medienkonzerns Bertelsmann, hat dies erkannt und sogar in die Betriebsverfassung schreiben lassen: »Die Beziehungen der Mitarbeiter untereinander sollen fair und kooperativ sein.«

Kooperation, Fairness, Hilfsbereitschaft, Solidarität – in allen Bereichen, auch in der Partnerschaft! – bringen uns mehr als der Darwin’sche Kampf jeder gegen jeden. Wenn Darwin Recht hat, warum umsorgt dann die Mutter ihr behindertes Kind mit besonderer Liebe? Warum rennt ein Mann in das brennende Haus, um einen Freund zu retten? Warum gehen Menschen freiwillig in den Tod, damit andere Menschen leben können?

Der Darwinismus ist eine Lehre aus dem 19. Jahrhundert und war mitverantwortlich für grauenvolle Ereignisse im 20. Jahrhundert. Wir müssen den Mut haben, uns von gestrigen Überzeugungen zu trennen und umzudenken, damit das 21. Jahrhundert besser wird.

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