Gerade mal neun Monate dauerte die Wehrpflicht unmittelbar vor ihrer Abschaffung im vergangenen Jahr, doch schon dieser kurze Zeitraum reicht offenbar aus, um junge Bundeswehrrekruten in ihrer Charakterentwicklung dauerhaft zu beeinträchtigen. Zu diesem für die Bundeswehrführung (aktueller Slogan: »Wir. Dienen. Deutschland«) wenig schmeichelhaften Ergebnis ist ein Forscherteam an der Universität Tübingen gekommen.
»Der Wehrdienst ist nicht nur ein kurzer Knick, der sich wieder
herauswächst«, sagt
Bildungsforscher Ulrich Trautwein, der zusammen mit
seinem Kollegen Oliver Lüdtke die Studie geleitet hat. Im Gegenteil:
Noch Jahre später hinken ehemalige Soldaten ihren Altersgenossen in
Sachen persönlicher Reife hinterher.
1.500 Lebensläufe junger Menschen haben die Forscher
ausgewertet, als Teil der seit Jahren laufenden Dauerstudie Tosca über
die Bildungs- und Karrierewege Zehntausender baden-württembergischer
Abiturienten der Jahrgänge 2002 bis 2006. Mehr als 60 unterschiedliche
Persönlichkeitsmerkmale haben Trautwein und seine Kollegen abgefragt.
Demnach ließen sich diejenigen jungen Männer, die zur Bundeswehr gingen,
weniger von Literatur und Kunst begeistern und fanden philosophische
Diskussionen eher langweilig. Sie bezeichneten sich als misstrauischer
und weniger gesprächig Fremden gegenüber, machten sich aber auch
seltener Gedanken über die Folgen ihres eigenen Handelns und ihre Rolle
in der Welt. Dafür waren sie umso konkurrenzbetonter.
Aus den Antworten haben die Forscher dann für jeden
Studienteilnehmer Werte auf einer Vergleichsskala berechnet, um die
Abweichungen statistisch untersuchbar zu machen. Ihre Schlussfolgerung:
Dass die Exsoldaten aggressiver und weniger einfühlsam seien
als ihre männlichen Altersgenossen (hauptsächlich
Zivildienstleistende), sei keine Zufallsschwankung, sondern durch den
vorher geleisteten Wehrdienst erklärbar.
Von einem »überraschenden Befund, der Fragen aufwirft«, sprechen
die Forscher. Das Verteidigungsministerium dagegen hält die Ergebnisse
der Studie für widersprüchlich und die vermeintlichen Zusammenhänge
zwischen Wehrdienst und Charakterbildung für »schwach ausgeprägt«. Man
könnte es sich an dieser Stelle in der Tat einfach machen und
unterstellen, dass jene Schulabgänger, die sich für die Bundeswehr
entscheiden, von vornherein die aggressiveren und weniger sozial
eingestellten seien. Sonst hätten sie ja etwas anderes – zum Beispiel
Zivildienst – gemacht. Das Verteidigungsministerium tut genau dies: Die
Studie belege, so ein Ministeriumssprecher, dass die
Wehrdienstleistenden bereits vor Dienstantritt niedrigere Werte in
Sachen Verträglichkeit erzielten und dafür aber auch umgekehrt
stressresistenter und leistungsorientierter seien als
Zivildienstleistende.
Stressresistente Wehrdienstleistende
Für Bildungsforscher Trautwein sind das »Nebelkerzen«. Denn er
und seine Kollegen haben sich für ihren Vorher-nachher-Vergleich aus dem
riesigen Tosca-Fundus bewusst nur solche Personen ausgesucht, die aus
ähnlichem Elternhaus stammten und zu Beginn der Studie auf dieselben
Fragen vergleichbare Antworten gegeben haben. Die Schlussfolgerung der
Forscher: Die Unterschiede nach dem Ende des Wehrdienstes müssen also
auch durch diesen selbst hervorgerufen worden sein. Das Problem sei
dabei übrigens nicht, dass die Entwicklung der ehemaligen Soldaten
insgesamt in die falsche Richtung laufe, sagt Trautwein. »Wie alle
Anfang 20-Jährigen werden sie weniger aggressiv. Aber eben signifikant
langsamer als ihre Altersgenossen.«
Fast scheint es so, als würde die Bundeswehr die Soldaten im
Zustand von testosterongesteuerten Jugendlichen festhalten. Womöglich,
so Trautwein, ein im Sinne der Kampfstärke durchaus erwünschter Effekt:
»Wenn man einem bewaffneten Talib gegenübersteht, sollte man vielleicht
nicht erst überlegen, was der privat so für Interessen hat.«
Allerdings kommen dann doch die wenigsten Bundeswehrsoldaten
nach Afghanistan. Und gerade nach Ende der Wehrpflicht konkurriert die
Bundeswehr mehr und mehr mit anderen Arbeitgebern um die Gunst der
Schulabgänger. So wird die Frage nach den Softskills – den sozialen und
kulturellen Kompetenzen also, die ein Beruf vermittelt – für die
Karrierechancen immer ausschlaggebender. Gleichzeitig lautet Trautweins
Prognose, dass die charakterlichen Unterschiede zwischen Berufssoldaten
und Normalbevölkerung eher noch wachsen dürften, wenn bei der
Rekrutierung nur noch das Prinzip Freiwilligkeit herrscht. »Darüber wird
sich die Bundeswehr Gedanken machen müssen.«
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