Samstag, 7. November 2015

Unreife Rekruten Schon neun Monate Bundeswehr schaden der Charakterentwicklung, sagen Forscher




Gerade mal neun Monate dauerte die Wehrpflicht unmittelbar vor ihrer Abschaffung im vergangenen Jahr, doch schon dieser kurze Zeitraum reicht offenbar aus, um junge Bundeswehrrekruten in ihrer Charakterentwicklung dauerhaft zu beeinträchtigen. Zu diesem für die Bundeswehrführung (aktueller Slogan: »Wir. Dienen. Deutschland«) wenig schmeichelhaften Ergebnis ist ein Forscherteam an der Universität Tübingen gekommen.


 »Der Wehrdienst ist nicht nur ein kurzer Knick, der sich wieder herauswächst«, sagt 
Bildungsforscher Ulrich Trautwein, der zusammen mit seinem Kollegen Oliver Lüdtke die Studie geleitet hat. Im Gegenteil: Noch Jahre später hinken ehemalige Soldaten ihren Altersgenossen in Sachen persönlicher Reife hinterher. 

1.500 Lebensläufe junger Menschen haben die Forscher ausgewertet, als Teil der seit Jahren laufenden Dauerstudie Tosca über die Bildungs- und Karrierewege Zehntausender baden-württembergischer Abiturienten der Jahrgänge 2002 bis 2006. Mehr als 60 unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale haben Trautwein und seine Kollegen abgefragt. Demnach ließen sich diejenigen jungen Männer, die zur Bundeswehr gingen, weniger von Literatur und Kunst begeistern und fanden philosophische Diskussionen eher langweilig. Sie bezeichneten sich als misstrauischer und weniger gesprächig Fremden gegenüber, machten sich aber auch seltener Gedanken über die Folgen ihres eigenen Handelns und ihre Rolle in der Welt. Dafür waren sie umso konkurrenzbetonter.
Aus den Antworten haben die Forscher dann für jeden Studienteilnehmer Werte auf einer Vergleichsskala berechnet, um die Abweichungen statistisch untersuchbar zu machen. Ihre Schlussfolgerung: Dass die Exsoldaten aggressiver und weniger einfühlsam seien als ihre männlichen Altersgenossen (hauptsächlich Zivildienstleistende), sei keine Zufallsschwankung, sondern durch den vorher geleisteten Wehrdienst erklärbar. 

Von einem »überraschenden Befund, der Fragen aufwirft«, sprechen die Forscher. Das Verteidigungsministerium dagegen hält die Ergebnisse der Studie für widersprüchlich und die vermeintlichen Zusammenhänge zwischen Wehrdienst und Charakterbildung für »schwach ausgeprägt«. Man könnte es sich an dieser Stelle in der Tat einfach machen und unterstellen, dass jene Schulabgänger, die sich für die Bundeswehr entscheiden, von vornherein die aggressiveren und weniger sozial eingestellten seien. Sonst hätten sie ja etwas anderes – zum Beispiel Zivildienst – gemacht. Das Verteidigungsministerium tut genau dies: Die Studie belege, so ein Ministeriumssprecher, dass die Wehrdienstleistenden bereits vor Dienstantritt niedrigere Werte in Sachen Verträglichkeit erzielten und dafür aber auch umgekehrt stressresistenter und leistungsorientierter seien als Zivildienstleistende. 

Stressresistente Wehrdienstleistende
 
Für Bildungsforscher Trautwein sind das »Nebelkerzen«. Denn er und seine Kollegen haben sich für ihren Vorher-nachher-Vergleich aus dem riesigen Tosca-Fundus bewusst nur solche Personen ausgesucht, die aus ähnlichem Elternhaus stammten und zu Beginn der Studie auf dieselben Fragen vergleichbare Antworten gegeben haben. Die Schlussfolgerung der Forscher: Die Unterschiede nach dem Ende des Wehrdienstes müssen also auch durch diesen selbst hervorgerufen worden sein. Das Problem sei dabei übrigens nicht, dass die Entwicklung der ehemaligen Soldaten insgesamt in die falsche Richtung laufe, sagt Trautwein. »Wie alle Anfang 20-Jährigen werden sie weniger aggressiv. Aber eben signifikant langsamer als ihre Altersgenossen.« 

Fast scheint es so, als würde die Bundeswehr die Soldaten im Zustand von testosterongesteuerten Jugendlichen festhalten. Womöglich, so Trautwein, ein im Sinne der Kampfstärke durchaus erwünschter Effekt: »Wenn man einem bewaffneten Talib gegenübersteht, sollte man vielleicht nicht erst überlegen, was der privat so für Interessen hat.« 

Allerdings kommen dann doch die wenigsten Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan. Und gerade nach Ende der Wehrpflicht konkurriert die Bundeswehr mehr und mehr mit anderen Arbeitgebern um die Gunst der Schulabgänger. So wird die Frage nach den Softskills – den sozialen und kulturellen Kompetenzen also, die ein Beruf vermittelt – für die Karrierechancen immer ausschlaggebender. Gleichzeitig lautet Trautweins Prognose, dass die charakterlichen Unterschiede zwischen Berufssoldaten und Normalbevölkerung eher noch wachsen dürften, wenn bei der Rekrutierung nur noch das Prinzip Freiwilligkeit herrscht. »Darüber wird sich die Bundeswehr Gedanken machen müssen.« 

Diesen Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich unter www.zeit.de/audio

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