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Sonntag, 9. Februar 2025

Die Illusion der Selbsthilfe: Eine kritische Analyse von Armut und struktureller Abhängigkeit

 


"Gib einem Hungernden einen Fisch, und er wird einmal satt. Lehre ihn Fischen, und er wird nie wieder hungern." 

Dieses alte Sprichwort klingt zunächst wie eine weise Lebensweisheit. Doch bei genauerer Betrachtung offenbart sich darin eine gefährliche Ideologie, die heute mehr denn je zur Rechtfertigung sozialer Ungerechtigkeit missbraucht wird.

Der Vogel im goldenen Käfig

Stellen Sie sich einen Vogel vor, eingesperrt in einen goldenen Käfig. Der Käfigbesitzer öffnet die Tür und ruft: "Flieg doch! Warum bleibst du sitzen? Du bist selbst schuld, wenn du nicht frei sein willst!" Dabei wurden dem Vogel längst die Flügel gestutzt.

Genau so verhält sich unser System gegenüber Menschen in Armut. "Warum sorgt ihr nicht für euch selbst?", ruft man ihnen zu, während man systematisch jede Möglichkeit zur Selbstversorgung vernichtet.

Die historische Dimension: Von der Hexenverfolgung zur modernen Kontrolle

Die Geschichte dieser systematischen Entmündigung beginnt nicht erst heute. Im 14. Jahrhundert wurde Europa von mehreren Katastrophen erschüttert: Die Pest raffte etwa ein Drittel der Bevölkerung dahin, Kriege und Klimaverschlechterungen führten zu weiteren Verlusten. Für die herrschende Klasse - Adel und Kirche - bedeutete dieser Bevölkerungsrückgang eine existenzielle Krise: Es fehlten Arbeitskräfte für ihre Ländereien, Soldaten für ihre Kriege, Steuerzahler für ihre Kassen.

Die Antwort der Herrschenden war die systematische Vernichtung des Wissens um Selbstbestimmung und Verhütung. Die weisen Frauen, Hebammen und Heilerinnen, die über Generationen das Wissen um Heilkunde und Geburtenkontrolle bewahrt hatten, wurden als "Hexen" verfolgt und getötet. Mit jeder Frau, die auf dem Scheiterhaufen starb, ging auch ein Teil des kollektiven Wissens um Selbstversorgung verloren.

Das Lehrstück der Inuit

Wie subtil und zugleich effektiv die Schaffung von Abhängigkeiten funktioniert, zeigt die Geschichte der Inuit. Jahrhundertelang lebten sie in perfekter Anpassung an ihre Umwelt. Sie bauten ihre eigenen Kajaks, fertigten ihre Harpunen selbst, beherrschten die traditionelle Jagd. Dann kamen die "Wohltäter" mit Motorbooten und Gewehren:

  • Die traditionellen Kajaks wurden durch Motorboote ersetzt - nun brauchten sie Benzin
  • Die handgefertigten Harpunen wichen Gewehren - nun brauchten sie Munition
  • Die selbstgebauten Unterkünfte wurden durch "moderne" Häuser ersetzt

In nur einer Generation wurde aus einem autarken Volk eine abhängige Gesellschaft. Das überlieferte Wissen ging verloren, die Selbstversorgung wurde durch Abhängigkeit von Handel und Geld ersetzt.

Der moderne Supermarkt-Mensch

Heute sind wir alle zu "Supermarkt-Menschen" geworden. Wie ein Zootier, das verlernt hat zu jagen, sind wir abhängig von einem System, das uns mit vorgefertigter Nahrung, vorgefertigten Lebensentwürfen und vorgefertigten Lösungen versorgt. Die Abhängigkeit ist total und durchdringt jeden Lebensbereich unseres Alltags.

Schauen wir uns zunächst die Wohnsituation an: Eine typische 50m²-Wohnung bietet keinerlei Möglichkeit zur Selbstversorgung. Die Keller, falls überhaupt vorhanden, sind nicht nur zu klein, sondern auch völlig ungeeignet für echte Vorratshaltung - anders als die alten, natürlich kühlen Kellerräume früherer Zeiten bieten die modernen Keller keine geeigneten Lagerbedingungen mehr für Lebensmittel. Selbst wer einen Balkon hat, sieht sich mit strengen Vorschriften konfrontiert, was dort angebaut oder gelagert werden darf. Für die Selbstversorgung braucht man Grundstück, Zugang zu Wasser, Elektrizität - all das ist ohne erhebliche finanzielle Mittel nicht zu bekommen.

Ein dichtes Netz aus Verboten und Vorschriften verhindert systematisch jede Alternative zur Abhängigkeit vom System:

  • Wer versucht, einen eigenen Brunnen zu bohren, stößt sofort auf Genehmigungspflichten und Verbote
  • Angeln ist nur mit teurem Angelschein und dann auch nur an ausgewiesenen Stellen erlaubt
  • Eine einfache Hütte im Wald bauen? Unmöglich ohne Grundstück und Baugenehmigung
  • Selbst das Sammeln von Holz oder Wildpflanzen ist vielerorts streng reglementiert

Man kann nicht einmal "einfach in den Wald gehen" - überall stößt man auf Verbotsschilder, Zäune und die allgegenwärtigen Hinweise auf Privateigentum. Die Infrastruktur unserer Gesellschaft ist so gestaltet, dass eine Existenz außerhalb des Systems praktisch unmöglich ist.

Stattdessen werden wir in ein System permanenter finanzieller Abhängigkeit gezwungen. Die monatlichen Zahlungen für Miete, Strom, Wasser und verschiedene Versicherungen schaffen einen nie endenden Kreislauf von Arbeitszwang und Konsum. Die "Freiheit" des modernen Menschen beschränkt sich darauf, zwischen verschiedenen Konsumoptionen zu wählen, während echte Alternativen systematisch verbaut werden.

Das System schafft dabei eine perfide doppelte Bindung: Einerseits macht es echte Selbstversorgung durch Regularien und fehlenden Zugang zu Ressourcen praktisch unmöglich, andererseits erzeugt es künstliche Bedürfnisse, die nur durch noch mehr Konsum befriedigt werden können. Der moderne Supermarkt-Mensch ist so nicht nur seiner Fähigkeiten zur Selbstversorgung beraubt, sondern auch in einem endlosen Kreislauf von Arbeit und Konsum gefangen.

Die perfekte Falle

Das System schafft eine doppelte Bindung:

  1. Zuerst werden Menschen ihrer Möglichkeiten zur Selbstversorgung beraubt
  2. Dann macht man sie abhängig von Lohnarbeit und Konsum
  3. Schließlich gibt man ihnen die Schuld an ihrer eigenen Abhängigkeit

Wie der Käfigbesitzer, der dem Vogel die Flügel stutzt und ihm dann vorwirft, nicht zu fliegen.

Die neoliberale Heuchelei

Besonders perfide wird dieses System der strukturellen Abhängigkeit durch seine ideologische Rechtfertigung im neoliberalen Diskurs. Die gleichen Kräfte, die jede Möglichkeit zur Selbstversorgung systematisch zerstören, predigen unermüdlich das Mantra der "Eigenverantwortung". Neoliberale und Libertäre blasen ins gleiche Horn, wenn sie von "Leistungsträgern" sprechen und jene, die sie selbst in die Abhängigkeit getrieben haben, als "Minderleister" brandmarken.

Das alte Sprichwort vom Fischen bekommt hier eine besonders zynische Note: Während die einen das Angeln ohne teure Lizenzen unter Strafe stellen, werfen die anderen den Hungernden vor, sich nicht selbst zu versorgen. Die wahren Verhältnisse werden dabei auf den Kopf gestellt: Nicht persönliche Leistung, sondern das geerbte Aktienpaket der Eltern bestimmt heute über Erfolg oder Abhängigkeit. Die "Leistungsträger" von heute sind oft nichts anderes als die Profiteure eines Systems, das systematisch Abhängigkeiten schafft und aufrechterhält.

Der Weg aus der Falle

Die Lösung liegt nicht darin, den Eingesperrten zu sagen, sie sollen einfach ausbrechen, sondern darin, die Strukturen zu ändern, die Menschen in Abhängigkeit halten. Die Privatisierung von Gemeingütern muss rückgängig gemacht werden, um kollektiven Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen wiederherzustellen. Es braucht bewusst geschaffene Räume für Selbstversorgung – seien es Gemeinschaftsgärten, offene Werkstätten oder gemeinschaftlich genutzte Flächen. Doch klar ist auch: In einer Welt mit begrenzten Ressourcen und wachsender Bevölkerung kann nicht jeder uneingeschränkt autark leben. Deshalb muss ein stabiles, menschenwürdiges Sozialsystem die Grundlage dafür bilden, dass niemand in Armut oder Scham leben muss.

Wenn uns die Möglichkeiten zur Selbstversorgung durch strukturelle Zwänge genommen wurden, ist es eine gesellschaftliche Pflicht, jedem Menschen die Werkzeuge seiner Selbstbestimmung zurückzugeben – sei es durch Bildung, Zugang zu Ressourcen oder ein Sozialsystem, das ohne Stigmatisierung funktioniert. Der permanente Druck auf Empfänger von Sozialleistungen – beschimpft als „Schmarotzer“ oder „faul“ – verstellt den Blick auf die wahren Ursachen der Abhängigkeit: strukturelle Ungerechtigkeiten, die es zu bekämpfen gilt.

Denn am Ende geht es nicht darum, Menschen nur das Handwerkszeug zu geben, sondern ihnen die Freiheit zu ermöglichen, dieses Werkzeug auch nutzen zu können. Es reicht nicht, jemandem das Angeln beizubringen, wenn ihm gleichzeitig der Zugang zum Fluss verwehrt wird. Wo echte Selbstbestimmung nicht möglich ist, muss die Gesellschaft die Verantwortung übernehmen und jedem Menschen die grundlegenden Mittel für ein selbstbestimmtes Leben garantieren. Ein gerechtes System ist eines, das Freiheit und Würde nicht als Privilegien verteilt, sondern als Rechte für alle sichert.


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