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Sonntag, 9. November 2025

Ernährungsarmut: Wenn Experten das Klassensystem biologisch zementieren

Oder: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit der „besorgten" Gutachter

Es gibt Momente, in denen die Maske fällt. In denen die paternalistische Verachtung, die der deutschen Armutspolitik zugrunde liegt, so unverhohlen zutage tritt, dass man meint, man hätte sich verlesen.

Der Fall Biesalski/Arens-Azevedo ist so ein Moment.

Die Fakten sind glasklar – und werden sofort relativiert

Die Sachverständigen legen 2020 vor dem Bundestag eine bestechende Analyse vor: Die Regelsätze der Grundsicherung reichen objektiv nicht aus, um eine gesunde Ernährung zu finanzieren. Die Zahlen sind eindeutig: Einem Kind stehen 4,01 Euro am Tag zur Verfügung, während eine DGE-konforme Ernährung 5,50 Euro kostet. Täglich 1,49 Euro Defizit. Mathematik, sechste Klasse.

Die Expertinnen und Experten bestätigen: Ja, gesunde Lebensmittel sind teurer. Ja, arme Familien müssen zu billigen Energieträgern greifen. Ja, das ist ein ökonomischer Zwang, keine freie Entscheidung.

Bis hierhin: Brillante Analyse. Messerscharfe Logik. Und dann?

Der Vertrauensbruch

Dann kommt der Satz, der entlarvt, was man wirklich von armen Menschen hält:

Es sei "unklar", ob eine Anhebung der Regelsätze zu einer Verbesserung führen würde, "da das zusätzliche Geld nicht unbedingt in die Ernährung fließen müsse".

Lesen Sie das noch einmal. Langsam.

Das Problem ist nicht mehr das fehlende Geld. Das Problem sind jetzt die Menschen, denen das Geld fehlt.

Man hat gerade wissenschaftlich nachgewiesen, dass 1,49 Euro fehlen. Und statt zu fordern, diese 1,49 Euro bereitzustellen, zweifelt man daran, ob die Eltern – selbst wenn sie das Geld hätten – es "richtig" verwenden würden.

Das ist gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Nennen wir es beim Namen: Das ist die Definition von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nach Wilhelm Heitmeyer. Eine ganze Gruppe – Millionen Menschen im Transferleistungsbezug – wird pauschal für unfähig erklärt, rationale Entscheidungen im Interesse ihrer Kinder zu treffen.

Die Beweislast wird umgekehrt:

  • Bei der Mittelschicht gilt: Wenn Geld da ist, wird es vernünftig verwendet.
  • Bei Armen gilt: Selbst wenn Geld da wäre, würden sie es versaufen/verrauchen/verschleudern.

Das ist keine wissenschaftliche Analyse. Das ist ein Klassenurteil.

Der zynische Charme der „Sachleistung"

Die Lösung? Kostenlose Kita- und Schulverpflegung. Universell. Für alle. Klingt erstmal gut, oder?

Aber hören Sie genau hin, warum die Experten das fordern:

Nicht, weil Gemeinschaftsverpflegung pädagogisch wertvoll wäre. Nicht, weil es Familien entlastet. Sondern weil es "zielgerichtet" ist.

"Zielgerichtet" bedeutet in diesem Kontext: Am elterlichen Budget vorbei. Man umgeht die Eltern. Man garantiert, dass die Nährstoffe ankommen, weil man den Eltern nicht zutraut, das Geld dafür zu verwenden.

Die Sachleistung ist nicht Emanzipation. Sie ist institutionalisiertes Misstrauen, verpackt als Fürsorge.

Die Doppelmoral ist atemberaubend

Niemand – niemand – käme auf die Idee, bei gutverdienenden Familien zu fragen: "Ja, aber woher wissen wir, dass die das Kindergeld nicht für den nächsten SUV-Leasingrate ausgeben statt für Bio-Gemüse?"

Bei Vermögenden gilt: Eigenverantwortung, Wahlfreiheit, Mündigkeit.

Bei Armen gilt: Kontrolle, Bevormundung, Sachleistung.

Das ist Klassismus in Reinform.

Erinnern wir uns an den Sprachgebrauch

Der FDP-Politiker, der von "Sozialhilfe-Müttern" sprach, die ihr Geld "in den nächsten Schnapsladen tragen" – das war kein Ausrutscher. Das ist die ideologische Grundierung dieser Politik.

Und jetzt kommen Wissenschaftler und gießen diese Ideologie in den Mantel der Fachlichkeit. Sie sagen nicht "Sozialhilfe-Mütter versaufen das Geld", sie sagen: "Es ist unklar, ob das Geld in die Ernährung fließt."

Gleiche Unterstellung. Besseres Vokabular.

Die volkswirtschaftliche Perversion

Lassen Sie uns das zu Ende denken:

Man weiß, dass 1,9 Millionen Kinder in Armut aufwachsen. Man weiß, dass diese Kinder ein 15-fach höheres Risiko für Sprachentwicklungsstörungen haben. Man weiß, dass Mangelernährung im "1000-Tage-Fenster" zu irreversiblen kognitiven Schäden führt.

Die volkswirtschaftlichen Folgekosten – Sonderpädagogik, Bildungsabbrüche, spätere Erwerbsunfähigkeit – werden astronomisch sein.

Aber statt 1,49 Euro mehr am Tag zu geben, diskutiert man, ob man den Eltern trauen kann.

Das ist nicht mehr nur sozial ungerecht. Das ist ökonomischer Wahnsinn im Dienste eines ideologischen Vorurteils.

Das System braucht keine Vollbeschäftigung mehr – aber die Verachtung bleibt

Werner Rügemer hat es in "Imperium EU" –  analysiert: Der Arbeitsmarkt wurde globalisiert, 10 Millionen Osteuropäer arbeiten in Deutschland, Migration in Millionenhöhe, und gleichzeitig wird deindustrialisiert.

Vollbeschäftigung wird es nie wieder geben. Das wissen alle.

Aber statt anzuerkennen, dass ein Teil der Bevölkerung strukturell aus dem Arbeitsmarkt herausgefallen ist – nicht aus Faulheit, sondern weil das System sie nicht mehr braucht – wird dieser Teil zum moralischen Versager erklärt.

Und dann wird ihnen auch noch die Kompetenz abgesprochen, ihre eigenen Kinder zu ernähren, selbst wenn man ihnen das Geld dafür gäbe.

Die "Politik-Schizophrenie" ist eine Lüge

Das Gutachten spricht von einer "Politik-Schizophrenie": Ein Ministerium propagiert DGE-Standards, ein anderes setzt Regelsätze fest, die diese Standards unmöglich machen.

Das ist keine Schizophrenie. Das ist Methode.

Die Politik will diese Zwei-Klassen-Ernährung. Sie braucht die Unterschichtung. Sonst müsste sie nämlich zugeben, dass sie eine wachsende Gruppe von Menschen aufgegeben hat – und dass diese Menschen trotzdem Würde und Teilhabe verdienen.

Was hier wirklich passiert

Hier wird Armut biologisch zementiert.

Ein Kind wird arm geboren → bekommt keine ausreichende Ernährung → erleidet irreversible kognitive Schäden → startet mit einem permanenten Nachteil ins Leben → hat schlechtere Bildungschancen → bleibt arm.

Die Experten beschreiben diesen Mechanismus akribisch. Und dann sagen sie: "Aber mehr Geld für die Eltern? Hmm, weiß nicht, ob das hilft."

Das ist nicht Fürsorge. Das ist Klassendünkel mit Fußnoten.

Conclusio

Ernährungsarmut in Deutschland ist kein Wissensproblem. Es ist ein Einkommensproblem.

Die Lösung ist simpel: Gebt den Familien genug Geld. 1,49 Euro mehr pro Kind und Tag. Punkt.

Aber das würde bedeuten, Armen auf Augenhöhe zu begegnen. Ihnen zuzutrauen, dass sie – wie jede andere Gesellschaftsschicht auch – in der Lage sind, für ihre Kinder zu sorgen, wenn sie die Mittel dazu haben.

Stattdessen wählt man den Weg der Sachleistung. Nicht weil sie besser ist. Sondern weil sie das Weltbild bestätigt: Die da unten können es nicht. Man muss es für sie tun.

Das ist keine Sozialpolitik. Das ist strukturelle Verachtung, gegossen in Paragrafen und Gutachten.

Und wenn Wissenschaftler diese Verachtung mit dem Segen der Empirie ausstatten, dann ist das nicht nur ein politisches, sondern auch ein ethisches Versagen der Zunft.


Die Frage ist nicht, ob die Regelsätze erhöht werden sollten. Die Frage ist, warum wir einer ganzen Bevölkerungsgruppe die Mündigkeit absprechen – und warum wir das auch noch für Fürsorge halten.

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