Das NS-Modell: 56 Tage zur "Besserung"
Wolfgang Ayaß hat in seiner Forschung zum "Asozialen" im Nationalsozialismus minutiös dokumentiert, wie das System der Arbeitserziehungslager funktionierte. Die Mechanik war präzise:
56 Tage Inhaftierung - keine Anklage, kein Gerichtsverfahren, nur Polizeiverfügung. Menschen, die als "arbeitsscheu" galten, wurden in Lager der Gestapo verbracht. Dort: Kasernierung, Zwangsarbeit, Drill, "Erziehung zur Arbeitsdisziplin". Wer sich fügte, "Besserung" zeigte, wurde entlassen - mit der Drohung, dass es beim nächsten Mal schlimmer würde.
Das war keine Arbeitsbeschaffung. Die NS-Wirtschaft hatte ab 1936 Vollbeschäftigung, später Arbeitskräftemangel. Die Lager dienten der Disziplinierung, der Durchsetzung einer Ideologie, in der nur der "schaffende Volksgenosse" Existenzberechtigung hatte.
Die Rhetorik: Diese Menschen seien "asozial", "gemeinschaftsunfähig", würden auf Kosten der "Schaffenden" leben. Man müsse "durchgreifen", sie zur "Arbeit erziehen". Fürsorge wurde zu Terror umgedeutet.
Nordhausen 2025: Die Rückkehr des Musters
Siebzig Jahre später, Landkreis Nordhausen, Thüringen. Ein SPD-Landrat verkündet stolz:
- Unter 25-Jährige ohne Ausbildung müssen 40 Stunden pro Woche arbeiten
- Wer nicht erscheint: Polizei klingelt sie morgens aus dem Bett, transportiert sie zur Arbeit
- Die Rhetorik: "Sie lachen die Jobcenter-Mitarbeiter aus", man müsse verhindern, dass sie "ins Sozialsystem abrutschen"
- Arbeitsorte: Bauhof, Werkstätten, gemeinnützige Vereine
Die strukturelle Lüge
Hier offenbart sich die zynische Doppelmoral des Systems. Werner Rügemer hat in "Imperium EU" akribisch dokumentiert:
Es gibt keine Arbeitsplätze.
- Massenhafte Privatisierung und Deregulierung haben reguläre Beschäftigung vernichtet
- Jugendarbeitslosigkeit auf Zehnjahreshoch - politisch erzeugt
- Ausbildungsplätze fehlen systematisch
- Prekarisierung durch Leiharbeit, Werkverträge, Scheinselbstständigkeit ist gewollt
Die jungen Menschen in Nordhausen werden nicht zu fehlenden Ausbildungsplätzen gebracht. Sie werden nicht in reguläre Arbeitsverhältnisse vermittelt. Sie werden zum Bauhof gebracht. Zur Zwangsarbeit.
Die Umkehrung: Vom Täter zum Opfer
Das perfide System:
- Strukturelle Gewalt: Politik zerstört Arbeitsplätze und Ausbildungssystem
- Individualisierung: Die Opfer werden zu Tätern erklärt ("wollen nicht arbeiten")
- Stigmatisierung: "Asozial", "lachen Mitarbeiter aus", "Bürgergeld-Empfänger"
- Repression: Polizei, Zwang, "Erziehung"
- Normalisierung: Medien berichten zustimmend, Gesellschaft applaudiert
Die historische Parallele
NS-Arbeitserziehungslager 1938-1945:
- 56 Tage Zwangsarbeit zur "Disziplinierung"
- Keine echte Arbeitsnot (Vollbeschäftigung)
- Ideologische Säuberung: "Asoziale" haben keinen Platz
- Rhetorik: "Schmarotzer", "Gemeinschaftsfremde"
- Polizeiliche Willkür ohne Gerichtsverfahren
Nordhausen 2025:
- 40 Stunden/Woche Zwangsarbeit zur "Erziehung"
- Keine echten Arbeitsplätze (strukturelle Arbeitslosigkeit)
- Neoliberale Disziplinierung: "Unproduktive" müssen fügsam werden
- Rhetorik: "Bürgergeld-Empfänger", "lachen Jobcenter aus"
- Polizei holt Menschen aus dem Bett
Der entscheidende Unterschied - und warum er nicht beruhigt
Ja, wir leben in einer Demokratie. Ja, es gibt Gerichte, Medien, Grundrechte. Niemand wird ermordet. Die KZs waren unvergleichlich schlimmer.
Aber: Die NS-Arbeitserziehungslager waren 1938 auch noch keine Vernichtungslager. Sie waren der Anfang. Sie etablierten die Logik, dass der Staat Menschen als "asozial" stigmatisieren, entrechteten und zur Arbeit zwingen darf.
Die Eskalation kam schrittweise:
- Erst "nur" 56 Tage Zwangsarbeit
- Dann längere Haft
- Dann Einweisung in KZs
- Dann "Vernichtung durch Arbeit"
Niemand behauptet, Nordhausen sei Auschwitz. Aber wir müssen erkennen: Die Muster der Anfangsphase sind zurück.
Was hier geschieht
In Nordhausen wird gerade getestet, wie weit ein demokratischer Staat gehen kann. Der Test läuft unter dem Radar als "Pilotprojekt" - bundesweit beachtet, wie der Artikel stolz verkündet. Das heißt: Andere beobachten. Andere wollen nachziehen.
Was wird getestet?
- Akzeptiert die Gesellschaft Polizeieinsätze gegen Sozialhilfeempfänger?
- Funktioniert die Täter-Opfer-Umkehr? (Bisher: ja)
- Wehren sich die Betroffenen? (Keine Macht, keine Lobby)
- Protestieren Medien, Juristen, Zivilgesellschaft? (Kaum)
Was wird etabliert?
- Entrechtung einer Bevölkerungsgruppe
- Normalisierung staatlicher Gewalt im Sozialbereich
- Ideologie der "produktiven" versus "unproduktiven" Menschen
- Arbeitszwang als legitimes politisches Instrument
Die Logik dahinter
Das neoliberale System hat ein Problem: Es produziert systematisch "Überflüssige". Menschen, die im globalisierten Kapitalismus keine verwertbare Funktion mehr haben. Zu alt, zu jung, zu wenig qualifiziert, am falschen Ort.
Zwei Optionen:
- Das System ändern - Vollbeschäftigung garantieren, ausbilden, investieren
- Die Menschen ändern - disziplinieren, zwingen, wegsperren
Nordhausen wählt Option 2. Wie die Nazis. Nicht aus denselben Gründen, nicht mit derselben Intensität - aber nach derselben Logik.
Wo wir stehen
Wir stehen an einem Punkt, an dem ein demokratischer Staat:
- Polizei gegen die Schwächsten einsetzt
- Zwangsarbeit einführt (denn was sonst ist 40-Stunden-Pflichtarbeit ohne Lohn?)
- Strukturelle Gewalt als individuelles Versagen umdeutet
- Historische Muster reproduziert, die katastrophal endeten
Die Weimarer Republik war auch eine Demokratie. Bis sie es nicht mehr war. Der Weg in den autoritären Staat beginnt immer mit der Entrechtung derer, die sich nicht wehren können. Mit Maßnahmen, die "vernünftig" klingen. Mit Rhetorik, die Täter zu Opfern macht.
Die Fragen, die wir stellen müssen
- Wann wird Arbeitszwang zu Zwangsarbeit?
- Wo ist die Grenze zwischen Aktivierung und Repression?
- Wer definiert "asozial" - und nach welchen Kriterien?
- Warum akzeptieren wir Polizeigewalt gegen Menschen, deren einziges "Verbrechen" Arbeitslosigkeit ist?
- Warum müssen die Opfer struktureller Gewalt diszipliniert werden statt das System?
Was Ayaß uns lehrt
Wolfgang Ayaß' Forschung zeigt: Der Holocaust an "Asozialen" begann nicht in Gaskammern. Er begann mit Stigmatisierung. Mit Rhetorik. Mit "Arbeitserziehung". Mit gesellschaftlicher Akzeptanz für staatliche Gewalt gegen Schwache.
Die Lehre ist nicht: "Nordhausen ist NS". Die Lehre ist: Wir müssen die Muster erkennen, bevor sie eskalieren.
Arbeitserziehungslager waren 1938 "nur" 56 Tage. Ein Pilotprojekt. Ein Test.
Nordhausen 2025 ist auch ein Pilotprojekt. Ein Test.
Die Frage ist: Bestehen wir ihn?
„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen" – dieser vermeintlich biblische Satz (2. Thessalonicher 3,10) wurde im Nationalsozialismus zur Legitimation von Verfolgung. Er steht heute wieder über deutschen Jobcentern. Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich. Und wir sollten endlich zuhören.
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