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Samstag, 27. Dezember 2025

Der Keynote-Professor Anatomie eines Leistungsträger-Mythos

 Kürzlich entspann sich auf X ein aufschlussreicher Dialog. Ein Mann mit beeindruckender Visitenkarte – Professor, Unternehmer, Berater, Investor, Keynote-Speaker – echauffierte sich über Bürgergeldempfänger. Niemand habe ein Recht darauf, seine "individuelle Entscheidung" nicht zu arbeiten vom Steuerzahler finanzieren zu lassen.

Die Frage, was er selbst denn für die Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaft tue, quittierte er mit Empörung: "Wo werde ich staatlich subventioniert?"

Nach kurzem Schlagabtausch folgten Beleidigungen ("dumm", "Pfeife") und schließlich der Block-Button.

Der Mann ist unwichtig. Aber er steht exemplarisch für eine Klasse von Menschen, die sich für Leistungsträger halten – und nicht merken, wie tief sie selbst im Subventionssumpf stecken.


Die Argumente – und was sie wirklich bedeuten

"Ich zahle 48% Steuern auf ausgeschüttete Gewinne!"

Dieser Satz verrät das ganze Missverständnis.

Woher kommen diese "Gewinne"? Sie entstehen, wenn Einnahmen die Ausgaben übersteigen. Die Einnahmen stammen von Kunden. Der Unternehmer kalkuliert alle Kosten – Löhne, Kredite, Miete, Material, und ja: auch Steuern – in seinen Endpreis ein. Kann er das nicht, geht er pleite.

Das bedeutet: Der Kunde zahlt die Steuer. Der Unternehmer reicht sie weiter. Er ist nicht Steuerzahler, sondern Transmitter – eine vorgelagerte Inkassostelle des Finanzamts.

48% auf Gewinne klingt viel. Aber diese 48% wurden vorher dem Kunden aus der Tasche gezogen. Der Unternehmer spürt davon nichts, solange sein Geschäft läuft.

Wer glaubt, Unternehmer zahlen Steuern, glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.


"Ich habe 10 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen!"

Auch hier dieselbe Logik: Die Sozialversicherungsbeiträge – Arbeitgeber- wie Arbeitnehmeranteil – sind eingepreist. Der Kunde zahlt. Der Unternehmer verwaltet.

Aber fragen wir tiefer: Woher kommen diese zehn Arbeitskräfte?

Sie sind nicht vom Himmel gefallen. Jemand hat sie:

  • 18 Jahre lang ernährt, gekleidet, gepflegt – meist Mütter, meist unbezahlt
  • 13 Jahre beschult – steuerfinanziert
  • Ausgebildet oder durch ein Studium gebracht – steuerfinanziert
  • Gesund gehalten – durch ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem

Der Unternehmer greift sich das fertige Humankapital und nennt es "Arbeitsplätze schaffen".

Aber es kommt noch besser: Diese Arbeitskräfte geben dem Unternehmer auch noch einen zinslosen Kredit.

Denn der Arbeiter arbeitet zuerst – vier bis sechs Wochen lang – und wird danach bezahlt. Er leistet vor, der Unternehmer zahlt nach. Das ist ein Kredit. Würde der Arbeiter dieses Geld bei einer Bank leihen, müsste er Zinsen zahlen. Der Unternehmer bekommt diesen Kredit von jedem seiner Angestellten – kostenlos.

Bei zehn Angestellten sind das zehn zinslose Kredite. Jeden Monat. Jahr für Jahr.

Die eigentliche Frage lautet: Wer hat hier wem etwas gegeben?


"Mein Geld, mein Risiko!"

Das Lieblingsargument. Aber welches Risiko genau?

  • Die GmbH oder UG trennt Privatvermögen vom Betriebsvermögen. Bei Pleite haftet die Gesellschaft, nicht der Unternehmer.
  • Kurzarbeitergeld in Krisenzeiten – gezahlt aus der Arbeitslosenversicherung der Angestellten.
  • Rettungspakete für größere Unternehmen – Steuergeld.
  • Bei Insolvenz landen die Angestellten beim Arbeitsamt. Der Unternehmer? Macht die nächste GmbH auf.

Das "Risiko" ist eingebettet in ein dichtes Netz aus steuerfinanzierten Absicherungen. Es ist ein gedämpftes Risiko – gedämpft von der Allgemeinheit.


"Private Hochschule! Honorarprofessor – also KEIN Honorar!"

Soll heißen: Ich koste den Staat nichts.

Aber auch private Hochschulen existieren nicht im luftleeren Raum:

  • Ihre Abschlüsse werden staatlich akkreditiert
  • Ihre Studenten beziehen oft BAföG – Steuergeld
  • Studiengebühren sind steuerlich absetzbar
  • Das gesamte Bildungssystem, das die Studenten vorbereitet hat, war steuerfinanziert

Der Professorentitel – ob bezahlt oder nicht – verleiht Autorität und Reputation. Diese Reputation wurde im staatlichen Wissenschaftssystem aufgebaut und wird nun privat vermarktet: für Beratungen, Keynotes, Bücher.

Das ist keine Kritik. Das ist eine Feststellung: Auch der "private" Erfolg baut auf öffentlichen Strukturen auf.


Die eigentliche Frage

Sie blieb unbeantwortet, trotz mehrfacher Nachfrage:

Was produzieren Sie konkret für die Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaft?

  • "Beratung" ist keine Produktion. Sie optimiert die Gewinne anderer.
  • "Keynotes" sind keine Produktion. Sie sind Unterhaltung für Konferenzteilnehmer.
  • "Investieren" ist keine Produktion. Es ist Geld, das arbeiten lässt – also andere arbeiten lässt.

Am Ende jeder Wertschöpfungskette muss jemand etwas herstellen, pflegen, bauen, ernten, transportieren. Jemand muss die eigentliche Arbeit tun.

Der Keynote-Professor tut das nicht. Er lebt davon, dass andere es tun.

Das wäre in Ordnung – wenn er nicht gleichzeitig jene als "Schmarotzer" bezeichnen würde, die am unteren Ende der Gesellschaft ums Überleben kämpfen.


Die Rechnung

Stellen wir die Zahlen gegenüber:


Bürgergeldempfänger Keynote-Professor
Monatliches Einkommen 563 € 10.000+ € (geschätzt, pro Keynote)
Besteuerung Keine (unter Freibetrag) 25% auf Kapitalerträge (statt 42% auf Arbeit)
Gesellschaftlicher Status "Schmarotzer" "Leistungsträger"
Tatsächliche Produktion Keine Keine

Der Unterschied ist nicht die Leistung. Der Unterschied ist die Sichtbarkeit der Transfers.

Die Subventionen für den Bürgergeldempfänger stehen im Haushaltsplan. Die Subventionen für den Keynote-Professor sind unsichtbar: eingebettet in Infrastruktur, Rechtssystem, Bildungswesen, Steuerprivilegien.


Warum der Block?

Am Ende des Dialogs kam keine Antwort mehr. Nur Beleidigungen und der Block-Button.

Das ist kein Zufall. Diese Fragen dürfen nicht beantwortet werden.

Denn die ehrliche Antwort würde lauten: Ich lebe von einem System, das mich begünstigt, während es andere bestraft. Mein Selbstbild als "Leistungsträger" ist eine Illusion. Ich bin nicht besser als die, auf die ich herabschaue – nur besser positioniert.

Das kann man sich nicht eingestehen. Also: Block.


Fazit

Der Keynote-Professor ist kein Einzelfall. Er ist ein Typus.

Man erkennt ihn an:

  • Dem aufgeblähten LinkedIn-Profil
  • Der Verachtung für "die da unten"
  • Der völligen Blindheit für die eigenen Privilegien
  • Der Unfähigkeit, einfache Fragen zu beantworten
  • Der Aggression, wenn man nachhakt

Er ist das Produkt eines Systems, das unsichtbare Transfers nach oben und sichtbare Transfers nach unten organisiert – und dann so tut, als sei das Leistungsgerechtigkeit.

Die Hetze gegen Bürgergeldempfänger ist kein Zufall. Sie ist notwendig, um von dieser Umverteilung abzulenken.

Der Keynote-Professor schimpft über Schmarotzer, weil er nicht in den Spiegel schauen will.


Vielleicht sollte er mal eine Keynote darüber halten.

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