Montag, 5. Oktober 2015

Dass es nicht die Hausärzte, behandelnden Psychiater, Neurologen, Therapeuten sind, die das letzte Wort hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit behalten, öffnet Tür und Tor für staatliche Willkür.

Sie steht wieder ins Haus, die turnusmäßig alle zwei Jahre stattfindende „Amtsärztliche Begutachtung zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit“ und wie üblich bleibe ich in der Nacht vorher schlaflos.
Es ist jetzt vier Uhr Morgens und die innere Anspannung, die sich in den letzten Tagen vor allem in schlechter Laune, Verstärkung der Depression und damit einhergehenden Müdigkeit zeigte, in Anspannung und Hang zu selbstverletzendem Verhalten, sie nimmt langsam ab.
„Noch ein paar Stunden, dann ist es eh vorbei“ beruhigt mein Kopf.
Quelle: https://www.fischundfleisch.com/blogs/politik/sehe-ich-krank-genug-aus.html

Und doch bleibt der Bürokratieirrsinn, der diesem Termin innewohnt, bestehen.

Eine, mir fremde, Ärztin (es mag in anderen Fällen ein Arzt zuständig sein) lässt mich vorstellig werden, um dann in kurzem Gespräch von höchstens 15 Minuten festzustellen, ob ich nicht doch arbeitsfähig sein könnte.

Nicht nur, dass jeder seriöse Arzt angesichts der Möglichkeit, dies in einer Viertelstunde können zu sollen, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde, es ist auch für mich ein Graus.
Eine physische Erkrankung manifestiert sich sichtbar, lässt sich auf Röntgenbildern sehen, mit Bluttests feststellen.

Die psychische Erkrankung versteckt sich hinter der Maske physischer Funktionalität.
Und so gehen mir vor dem Termin absurde Dinge durch den Kopf:

„Sehe ich krank genug aus“?

Wie krank muss ich aussehen, oder wie genau sieht man als Depressive wohl krank aus?
Ich lebe mit dauerhaften, seelischen Schmerzen, die physischen Schmerzen in nichts nachstehen, zumindest im persönlichen Vergleich. Wer mich jedoch kennenlernt, der sieht mir dies nicht an.
Die permanente Selbsterklärung wird Teil der Welt jedes an Depressionen Erkrankten. Von Erklärungen über die Diskrepanz zwischen äußerem Bild einer gesunden Mitt-Dreißigerin und innerer Seelenpein über permanente Erklärung der Krankheitsentstehung, die vor allem bei Ämtern und Ärzten derart routiniert über meine Lippen kommt, dass die Lebensgeschichte, die ich erzähle, sich gelegentlich nicht mehr anfühlt, als sei es meine eigene, besteht das Leben des Depressiven aus Rechtfertigung seines „Zustandes“.

Nun werden Sie vielleicht denken: „Sie erhalten eine staatliche Finanzleistung, also sind Sie Rechenschaft schuldig“. Wenn wir hier einmal absehen von einer Debatte darüber, was ein Transferempfänger „schuldig ist“ (im moralischen, wie im finanziellen Sinne), dann bleibt immer noch die Tatsache, dass kein Arzt dieser Welt in der Lage ist, dem Kranken hinter die Stirn zu blicken und in wenigen Minuten ein Urteil über dessen Leistungsfähigkeit abzugeben.

Und so geht es dann heute auch darum, die Bescheide meiner behandelnden Ärzte einzureichen (für die wie selbstverständlich das Recht auf das Arzt-Patienten-Geheimnis in Gänze ausgehebelt ist).
Ärzte, die mich z.T. seit über 8 Jahren regelmäßig in ihrer Praxis sehen.
Es hätte Kosten gespart und mir Druck und Angst genommen, diese ärztlichen Bescheide sowie eine persönliche Stellungnahme an zuständige Ämter zu weiterzuleiten.

Aber es geht bei amtsärztlichen Untersuchungen eben nicht nur um die „Feststellung der Arbeitsfähigkeit“, die in der Kürze der Zeit tatsächlich gar nicht machbar ist.
Es geht auch um Deutungshoheit und Macht, um das Erzeugen von Druck auf die Betroffenen.
Nur das Einfordern von Deutungshoheit kann es ermöglichen, approbierte, langjährig behandelnde Ärzte im Zweifelsfalle für zweitrangig zu halten in der Beurteilung der „Leistungsfähigkeit“ und 15 Minuten alle 24 Monate zu einer Basis zu erklären, auf der eine zuverlässige Diagnose machbar ist.

Und Druck und Macht liegen darin, die Betroffenen im Zwei-Jahres-Turnus das Damoklesschwert der Existenzangst spüren zu lassen. Entscheidet der Amtsarzt, die Person, die er gerade gewogen, gemessen und für ein paar Minuten ausgefragt hat, könne als „arbeitsfähig“ eingestuft werden, beginnt für die Betroffenen im Zweifelsfalle eine existenzbedrohende Situation. Es muss Widerspruch eingelegt werden, notfalls geklagt. Gerade für psychisch Erkrankte eine Tortur.

Dass es nicht die Hausärzte, behandelnden Psychiater, Neurologen, Therapeuten sind, die das letzte Wort hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit behalten, öffnet Tür und Tor für staatliche Willkür.

Ganz unbemerkt von deutschen Medien geisterte Ende August ein Gespenst durch die britischen Medien:

ESA (Employment and Support Allowance).
Kaum waren in England die Konservativen wiedergewählt, wurden Sozialleistungen gestrichen.
Tausende Menschen, darunter Behinderte und psychisch Erkrankte, wurden im Zuge dieser Maßnahme über Nacht als „Fit for Work“, also „arbeitstauglich“ eingestuft.
2380 Todesfälle (Die Zahlen variieren leicht in den diversen Artikeln zum Thema) waren das Resultat. Die Zahlen dazu wurden vom zuständigen Minister für Arbeit und Pensionen, Iain Duncan Smith, erst nach vehementer Einforderung der Statistiken veröffentlicht.

„More than 2,500 sick and disabled benefit claimants have died after being found 'fit for work' in just two years…The Tories have finally released the total - burying it under immigration figures - after 250,000 people signed a petition calling on them to end the cover-up.
Iain Duncan Smith's officials tried to stop the figures being released in full, mounting a legal challenge to publish only 'age-standardised' numbers instead.
The stand-off saw him launch a blistering attack on Labour MPs including Debbie Abrahams, who've been demanding the figures for months. But he's now performed a U-turn and issued the devastating figures today. They show 2,650 benefit claimants died shortly after being found 'fit for work' between December 2011 and February 2014.” (Quelle)

Ob die Berichterstattung über diese Todesfälle hierzulande auch deswegen nicht stattfand, weil der Rest Europas im Zuge der Austerität ebenfalls vor allem Sozialleistungen kürzt, während zeitgleich der Wohlstand der Wenigen gemehrt wird?

Weil da wie hier vor allem die mit Schuldfrage und sozialer Abwertung zu kämpfen haben, die nicht effektiver Teil der Leistungsgesellschaft sind?

Spekulation, zugegeben. Aber ein Land, in dem jede Katastrophe, jeder Flugzeugabsturz, jedes Attentat mit weniger Toten zu horrender medialer Größe aufgeblasen wird, sollte man über zweitausend Tote für eine wichtige Nachricht halten. Aber ein paar tausend tote Kranke und vom Staat Abhängige sind uns weder hysterische Live-Ticker noch Brennpunkte wert.

Was also macht es mit einem Menschen, der krank ist, der weiß dass er krank ist, und der dennoch vom Staat für „arbeitsfähig“ erklärt wird?
Der nicht die Kraft aufbringt, zu klagen, so wie er eben auch nicht die Kraft aufbringen kann zu arbeiten?

In England haben dies einige deutlich beantwortet.
Und zugegebenermaßen habe auch ich im Hinterkopf schon mehrfach durchgespielt, welche Folgen eine erzwungene „Gesundschreibung“ für mich hätte.
In dieser Hinsicht sympathisiere ich mit den englischen Betroffenen, die mit dieser Realität konfrontiert waren.

Man könnte eine öffentliche Debatte zum Thema anstoßen, die Frage stellen, wie viel Macht der Staat und eine winzige Behörde, die im Akkord, in engstem Zeitrahmen, nach politischen Vorgaben existenzgefährdende Entscheidungen trifft, haben dürfen sollte.
Man könnte die Frage nach Humanismus und Menschenrechten stellen und danach, wie die „Würde des Menschen“ denn eigentlich klar genug definiert und umrissen wird um mehr zu sein, als bloße Absichtserklärung.

(Und für die, die hier wie immer ihren Senf dazugeben werden, sehr vorhersehbar, im Sinne von „Wovon soll das bezahlt werden“ und „nicht machbar weil Gutmenschengerede“: Wir reden im Falle von Deutschland von einem Land, das sein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gesteigert hat und Überschüsse erwirtschaftet).

Man könnte anhand der englischen Statistiken und Zahlen Rückschlüsse auf die Notwendigkeit eines funktionierenden Sozialstaates ziehen und diese in die Debatte einfließen lassen.

Sich empören über Armutstote in Wohlstandsgesellschaften.

Denn auch Großbritannien hat Wirtschaftswachstum zu verzeichnen und, mit einem leichten Abfall 2015, ein wachsendes Bruttoinlandsprodukt.

Nur hat der öffentliche Diskurs bereits die erwünschte Wende genommen.
In freundlicher Zusammenarbeit mit BILD, Politakteuren, Arbeitgebern wurde das Bild vom faulen Sozialschmarotzer gezeichnet und gefestigt. So konnte bei Maischberger hemmungslos gefordert werden, Arbeitslose sollten gar keine Leistungen mehr erhalten, wie auch Müntefering noch zu Amtszeiten munter drauflos blökte: "Nur wer arbeitet, soll auch essen."

Dass sich Herr Müntefering später gegen „Sterbehilfe“ aussprach, ehrt ihn sehr. Bedauerlicherweise mag er bei diesem ideologischen Spagat vergessen haben, dass Menschen ohne Nahrung zu lassen ebenfalls mit dem Tode enden kann.

Die BILD schreibt in schöner Regelmäßigkeit passende Texte mit großen Buchstaben und lauter Empörung über die bösen Sozialschmarotzer, denen es angeblich noch zu gut ginge.
Dass es niemandem der so Gescholtenen derart gut geht, dass ein Politiker oder gar BILD-Redakteur derart würde leben wollen? Solange danach keiner fragt, muss es die Hetzer nicht kümmern.

Zu guter Letzt:

Es ist traurig, dass man es überhaupt erwähnen muss, aber es sind nicht die Flüchtlinge, die den Armen hierzulande das letzte Brot und die Wohnung nehmen.
Es ist eine Politik der Umverteilung von unten nach oben, die dies schon ganz ohne Flüchtlinge seit Jahren schafft.

Ganz ohne „Angst“-Debatte, ohne Aufschrei, Plakate, Empörung haben die „besorgten Bürger“, die heute DEUTSCHE Obdachlose vorschieben für ihre Haltung, DEUTSCHE Rentner vorschieben um ihren Hass auf die Ankömmlinge zu rechtfertigen, den Mund gehalten und Armut Armut sein lassen. (Dies gilt für meine österreichischen Freunde nicht minder)
Wie wäre es zur Abwechslung, Sie hätten Angst vor der Entsolidarisierung? Die Folgen aus eben dieser sind seit Jahren zu beobachten und werden auf lange Sicht Sie genauso treffen, wie die, die Sie jetzt mit Verachtung strafen.

Wie wäre es, sie wären empört über jede Obdachlosigkeit?
Sie würden aufschreien bei jeder Menschenrechtsverletzung?

Dass die öffentliche Debatte geschafft hat, Hetze gegen Minderheiten, Arme, Kranke wieder salonfähig zu machen, ist kein Siegeszug der „Meinungsfreiheit“ sondern ein kollektives Armutszeugnis. Es ist Feigheit, nach unten zu treten und nach oben zu buckeln, in der Hoffnung, doch noch einen Teil des Kuchens zu erhaschen.
Solange Arme die noch Ärmeren treten haben die leichtes Spiel, die aus diesem Verhalten Profite schöpfen.

Und wer im völkischen Sinne die „eigenen Armen“ instrumentalisiert für seine Ideologie, der ist eh der Ärmste von allen.
Nur bedroht „Arm im Geiste“ nicht wesentlich die Existenz.

„Wissen Sie was: Ich glaube, es gibt überhaupt keine Faulheit. Der Mensch ist müde, der Mensch ist orientierungslos, der Mensch hat mal Angst, der Mensch hat vielleicht vom eigenen Elternhaus nicht die Fähigkeiten mitbekommen, sich jeden Tag einer nervtötenden Arbeit zu stellen. Der Mensch ist nie strukturell faul. Aber wenn es gelingt, Faulheit als Motiv zu installieren, dann haben wir aus dem Opfer einen Täter gemacht. Und genau das ist in den letzten Jahren bei uns abgelaufen.“ (Max Uthoff, Kabarettist)

Quelle: https://www.fischundfleisch.com/blogs/politik/sehe-ich-krank-genug-aus.html

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