In Fortsetzung meiner Analyse über "Die Psychologie als Herrschaftsinstrument"
Die neue heilige Kuh der Pseudo-Intellektuellen
In den letzten Jahren hat ein psychologisches Konzept eine bemerkenswerte Karriere hingelegt: der sogenannte Dunning-Kruger-Effekt. Dieser besagt, kurz gefasst, dass inkompetente Menschen ihre eigenen Fähigkeiten systematisch überschätzen. Oder wie es im populären Video heißt: "Unwissenheit ist gefährlich, doch die Unwissenheit, die sich für klug hält, ist tödlich."
Was auf den ersten Blick wie eine neutrale wissenschaftliche Beobachtung wirkt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als perfides Herrschaftsinstrument – ein weiteres psychologisches Konstrukt, das dazu dient, die Stimmen der "Ungebildeten" zu delegitimieren und bestehende Machtverhältnisse zu festigen.
Die Dunning-Kruger-Theorie als Waffe gegen den "kleinen Mann"
Betrachten wir einmal, wie dieser Effekt in der öffentlichen Debatte verwendet wird:
- Um Kritik am Expertenkonsens abzuwerten: "Du verstehst es einfach nicht."
- Um alternative Sichtweisen zu delegitimieren: "Ein klassischer Fall von Dunning-Kruger."
- Um demokratische Mitbestimmung zu untergraben: "Die Hälfte der Bevölkerung ist politisch ungebildet."
Der Dunning-Kruger-Effekt reiht sich damit nahtlos ein in die lange Tradition psychologischer Theorien, die "nach unten" blicken und die Masse pathologisieren, statt die Machtstrukturen zu hinterfragen, die diese Verhältnisse überhaupt erst produzieren.
Die verdeckten Annahmen hinter der Theorie
Hinter der scheinbar neutralen Fassade des Dunning-Kruger-Effekts verbergen sich mehrere problematische Annahmen:
- Die Definition von "Kompetenz" wird nicht hinterfragt: Wer bestimmt eigentlich, was als Wissen gilt und was nicht? In der Regel jene, die bereits über Definitionsmacht verfügen.
- Verschiedene Wissensformen werden hierarchisiert: Das praktische Wissen eines Bauern, eines Handwerkers oder einer Krankenpflegerin wird implizit abgewertet gegenüber dem theoretischen Wissen der akademischen Elite.
- Die Ursachen von "Unwissenheit" werden individualisiert: Statt strukturelle Faktoren wie ungleichen Bildungszugang, systematische Desinformation oder wirtschaftliche Zwänge zu betrachten, wird die "Dummheit" als individuelles Versagen dargestellt.
In der Tradition von Le Bon und Freud
Der Dunning-Kruger-Effekt steht in einer direkten geistigen Linie mit früheren psychologischen Theorien, die als Herrschaftsinstrumente dienten:
Gustave Le Bon lieferte mit seiner "Psychologie der Massen" ein detailliertes Handbuch zur Manipulation der Bevölkerung. Er beschrieb die Masse als irrational, triebgesteuert und manipulierbar – und gab den Herrschenden gleichzeitig die Werkzeuge an die Hand, genau diese vermeintlichen Schwächen auszunutzen.
Sigmund Freud individualisierte gesellschaftliche Probleme und verwandelte politischen Widerstand in persönliche Pathologie. Wer sich gegen das System auflehnte, litt in seinen Augen nicht unter realer Unterdrückung, sondern unter einem unverarbeiteten Vaterkomplex.
Genau wie diese Vorgänger dient auch der Dunning-Kruger-Effekt letztlich dazu, bestehende Machtverhältnisse zu legitimieren und zu festigen:
- Le Bon: "Die Masse ist irrational"
- Freud: "Der Widerständige ist neurotisch"
- Dunning-Kruger: "Der Unwissende erkennt seine Unwissenheit nicht"
In allen Fällen wird der Blick nach unten gerichtet, auf die vermeintlichen Defizite der "einfachen Menschen" – nie nach oben, auf die Pathologien der Macht.
Ist ein Bauer dumm?
Das Problem mit dem Dunning-Kruger-Effekt lässt sich an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: Ist ein Bauer dumm?
Nach der Logik des Dunning-Kruger-Effekts würde ein Bauer, der sich anmaßt, über klimapolitische Fragen zu diskutieren, sich selbst überschätzen. Er sollte den Experten das Feld überlassen.
Doch ist nicht genau dieser Bauer derjenige, der täglich mit den realen Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert ist? Der spürt, wenn sich Wettermuster ändern, Bodenqualitäten sich verschlechtern oder neue Schädlinge auftauchen? Sein praktisches Wissen, seine Lebenserfahrung, seine direkte Verbindung zur Natur – all das zählt nichts gegenüber den theoretischen Modellen der Klimawissenschaftler?
Der Ziegenhirte im Himalaya, der Reisbauer in Vietnam, der Kleinbauer in Mali – sie alle verfügen über Wissensformen, die in unserer akademisch geprägten Welt systematisch abgewertet werden. Und genau diese Abwertung wird durch Theorien wie den Dunning-Kruger-Effekt legitimiert und verstärkt.
Wer profitiert vom Dunning-Kruger-Effekt?
Fragen wir uns, wem dieser Effekt nützt:
- Der selbsternannten Intelligenzija, die ihr akademisches Wissen als überlegene Wissensform etablieren will
- Den bestehenden Machtstrukturen, die kritische Stimmen aus der Bevölkerung als "uninformiert" abtun können
- Den Medien und Meinungsmachern, die sich als Gatekeeper des "richtigen" Wissens positionieren können
- Einem System, das von der Entmündigung der Bevölkerung profitiert und echte demokratische Mitbestimmung fürchtet
Die Alternative: Eine Psychologie, die nach oben blickt
Was wir stattdessen bräuchten, wäre – wie ich in meinem früheren Artikel "Die Psychologie als Herrschaftsinstrument" dargelegt habe – eine Psychologie, die den Blick nach oben richtet:
- Die die Pathologien der Macht untersucht
- Die fragt, welche Persönlichkeitsstrukturen nach absoluter Kontrolle streben
- Die die psychischen Mechanismen der Manipulation durch Eliten entlarvt
- Die verschiedene Wissensformen gleichberechtigt behandelt
Diese Art von Psychologie hat es durchaus gegeben – denken wir an Wilhelm Reich, der genau deswegen verfolgt wurde, weil er die bestehenden Machtstrukturen hinterfragte und eine wirklich befreiende Psychologie entwickeln wollte.
Fazit: Den Blick umkehren
Der Dunning-Kruger-Effekt ist kein neutrales wissenschaftliches Konzept, sondern ein weiteres psychologisches Konstrukt, das dazu dient, die Definitionsmacht darüber, was als Wissen gilt, in den Händen der bereits Privilegierten zu belassen.
Eine wirklich kritische Psychologie müsste nicht fragen "Warum überschätzen sich die Unwissenden?", sondern "Wer profitiert davon, bestimmte Gruppen als unwissend abzustempeln?" Sie müsste nicht die vermeintlichen kognitiven Defizite der Masse analysieren, sondern die Manipulationsmechanismen der Macht.
Der Bauer, der Handwerker, die Krankenschwester – sie alle verfügen über wertvolles Wissen, das in einer wirklich demokratischen Gesellschaft gehört und respektiert werden müsste. Stattdessen werden sie durch Theorien wie den Dunning-Kruger-Effekt als inkompetent abgestempelt, sobald sie es wagen, über ihren unmittelbaren Erfahrungsbereich hinaus mitzudiskutieren.
Es wird Zeit, dass wir diesen Blick umkehren und eine Psychologie entwickeln, die nicht länger als Herrschaftsinstrument dient, sondern als Werkzeug der Befreiung.
Dieser Artikel steht in Verbindung mit meiner umfassenderen Analyse "Die Psychologie als Herrschaftsinstrument", in der ich die problematische Rolle psychologischer Theorien bei der Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse detaillierter untersuche.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen