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Samstag, 15. März 2025

Selektive Übersetzung und journalistische Sorgfalt: Eine kritische Analyse des DW-Faktenchecks zu Selenskyjs Aussagen

 

In einer Zeit intensiver Informationskonflikte rund um den Ukraine-Krieg werfen Faktenchecks wie jener der Deutschen Welle vom 7. März 2025 wichtige Fragen zur journalistischen Genauigkeit auf. Eine präzise Analyse der Quellen zeigt bemerkenswerte Diskrepanzen zwischen dem, was gesagt wurde, und wie es wiedergegeben wird.

Die Originalquelle

Die Primärquelle ist eine Pressekonferenz von Präsident Wolodymyr Selenskyj vom 24. Februar 2023, dem ersten Jahrestag der russischen Invasion, verfügbar auf YouTube unter: https://www.youtube.com/watch?v=yzR0Rr5oMts

Bei Zeitmarke 1:41:03-1:41:17 sagt Selenskyj auf Ukrainisch (laut Transkript):

"і тоді Сполучені Штати Америки будуть відправляти своїх синів і доньок так як відправляємо Сьогодні ми своїх і вони будуть воювати воювати тому що це НАТО і будуть гинути"

Wortgetreue Übersetzung: "Und dann werden die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Söhne und Töchter schicken müssen, so wie wir heute unsere schicken, und sie werden kämpfen, kämpfen, weil dies die NATO ist, und sie werden sterben."

Der DW-Faktencheck

In ihrem Artikel "Faktencheck: Fake-News-Welle nach Trump-Selenskyj-Eklat" vom 7. März 2025 (https://www.dw.com/de/faktencheck-fake-news-welle-nach-trump-selenskyj-eklat/a-71859782) schreibt die Deutsche Welle:

"Der Videoclip stammt aus einer Rede, die Selenskyj am 24. Februar 2023 gehalten hat. Darin forderte er nicht, dass US-Truppen in der Ukraine kämpfen. Stattdessen sprach er über ein hypothetisches Szenario, in dem die Ukraine den Krieg verliert. Selenskyj warnte, dass, wenn Russland die baltischen Staaten angreifen würde, die USA und andere NATO-Verbündete verpflichtet wären, nach Artikel 5 des NATO-Vertrags zu intervenieren."

Die DW gibt Selenskyjs Aussage dann wie folgt wieder: "Wenn die Ukraine verliert, wird Russland in die baltischen Staaten, die NATO-Staaten, einmarschieren, dann werden die USA ihre Söhne und Töchter genauso in den Krieg schicken müssen, wie wir unsere Söhne und Töchter in den Krieg schicken."

Direkte Gegenüberstellung

Direkte Gegenüberstellung

Originalaussage (vollständige Übersetzung):

"Und dann werden die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Söhne und Töchter schicken müssen, so wie wir heute unsere schicken, und sie werden kämpfen, kämpfen, weil dies die NATO ist, und sie werden sterben."

DW-Faktencheck-Wiedergabe:

"Wenn die Ukraine verliert, wird Russland in die baltischen Staaten, die NATO-Staaten, einmarschieren, dann werden die USA ihre Söhne und Töchter genauso in den Krieg schicken müssen, wie wir unsere Söhne und Töchter in den Krieg schicken."
[Der Teil "und sie werden sterben" fehlt vollständig]

Die DW-Version lässt den letzten Teil "und sie werden sterben" vollständig weg, obwohl dieser im Originaltranskript eindeutig vorhanden ist.

Kontext richtig, Inhalt unvollständig

Der DW-Faktencheck stellt den Kontext korrekt dar: Selenskyj sprach tatsächlich über ein hypothetisches Szenario, in dem Russland nach einer ukrainischen Niederlage NATO-Staaten angreifen würde. Die DW widerlegt auch richtig, dass Selenskyj eine direkte Entsendung amerikanischer Truppen in die Ukraine forderte.

Jedoch fehlt in der DW-Übersetzung die Erwähnung der tödlichen Konsequenzen ("und sie werden sterben"), die im Original ausdrücklich genannt werden. Diese Auslassung verändert den Ton und die Schwere der Aussage erheblich.

Problemstellung

Diese Analyse zeigt ein grundlegendes Problem: Ein Faktenchecker, der selbst unvollständig zitiert, während er andere der Desinformation bezichtigt, untergräbt potentiell die eigene Glaubwürdigkeit. Die Auslassung ist besonders problematisch, weil:

  1. Sie den emotionalen und inhaltlichen Schwerpunkt der Originalaussage abschwächt
  2. Sie in einem Artikel erscheint, der explizit darauf abzielt, Fehlinformationen zu korrigieren
  3. Die meisten deutschsprachigen Leser keinen direkten Zugang zum ukrainischen Original haben

Fazit

Diese Fallstudie verdeutlicht die Komplexität der Informationslandschaft im Kontext des Ukraine-Krieges. Selbst renommierte Medien wie die Deutsche Welle können unvollständige Darstellungen liefern, während sie gleichzeitig andere Quellen der Ungenauigkeit bezichtigen.

Für kritische Medienkonsumenten unterstreicht dies die Notwendigkeit, wo immer möglich, auf Primärquellen zurückzugreifen und verschiedene Übersetzungen und Interpretationen zu vergleichen. In einer Zeit, in der die Wahrheit oft das erste Opfer ist, bleibt gesunde Skepsis gegenüber allen Informationsquellen – unabhängig von ihrer Reputation – ein unverzichtbares Werkzeug.

Die Notwendigkeit einer differenzierten Konfliktbetrachtung

Die hier aufgezeigte Diskrepanz bei der DW-Übersetzung steht exemplarisch für ein größeres Problem in der westlichen Medienlandschaft: die selektive Darstellung des Ukraine-Konflikts und dessen Vorgeschichte.

Das Völkerrechtsverbot von Angriffskriegen ist ein fundamentales Prinzip internationaler Ordnung, dem uneingeschränkt zuzustimmen ist. Kein Land hat das Recht, ein anderes zu überfallen. Gleichzeitig verlangt eine ehrliche Analyse, die komplexen geopolitischen Entwicklungen zu betrachten, die zu Konflikten führen.

Der in westlichen Medien oft verwendete Begriff "unprovozierter Angriff" vereinfacht ein dichtes Geflecht historischer und strategischer Realitäten:

  1. Die NATO-Osterweiterung erfolgte trotz dokumentierter Zusicherungen westlicher Politiker an Gorbatschow, dass sich das Bündnis "nicht einen Zoll ostwärts" ausdehnen würde.
  2. Führende westliche Strategen wie George Kennan, der Architekt der Containment-Politik, warnten, die NATO-Osterweiterung sei "der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik seit dem Kalten Krieg".
  3. Zbigniew Brzezinski, ehemaliger US-Sicherheitsberater, formulierte explizit die strategische Bedeutung der Ukraine: "Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Imperium mehr" - ein klares Eingeständnis geopolitischer Ziele.
  4. George Friedman (Stratfor) bestätigte 2015 öffentlich, dass das "Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts" darin bestand, "eine Allianz zwischen Deutschland und Russland zu verhindern".
  5. Selbst Joe Biden warnte 1997: "Was Russland zu einer feindseligen Reaktion zwingen könnte, wäre eine Expansion der NATO an die russische Grenze."

Die westliche Einflussnahme in Osteuropa war weitaus systematischer als nur "offene Türen". Sie umfasste Milliardenzahlungen, gezielte Programme zur "Demokratieförderung" und strategische Unterstützung pro-westlicher Kräfte, wie im Fall der Ukraine besonders deutlich wurde.

Die Rolle von US-Diplomaten wie Victoria Nuland, die offen in die ukrainische Innenpolitik während der Maidan-Ereignisse eingriffen, wird in Faktenchecks wie dem der DW regelmäßig ausgeblendet - ebenso wie die massiven Verteidigungsausgaben der NATO, die das Russische um das Dreizehnfache übersteigen.

Eine differenzierte Perspektive ist entscheidend für die Entwicklung nachhaltiger Sicherheitsarchitekturen, die auf gegenseitigem Respekt und der Berücksichtigung legitimer Sicherheitsinteressen aller Seiten basieren. Die Anerkennung historischer Komplexität bedeutet nicht, Aggression zu rechtfertigen, sondern ist Voraussetzung für echte Konfliktlösung jenseits vereinfachender Gut-Böse-Schemata.

 


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