Dienstag, 1. Oktober 2024

Der Mythos vom sozialistischen Scheitern: Argentiniens 200-jähriger Kampf gegen neokoloniale Ausbeutung

In den Diskussionen über Argentiniens wirtschaftliche Probleme taucht immer wieder ein Narrativ auf: Der Sozialismus sei schuld am Niedergang des einst wohlhabenden Landes. Doch dieses Narrativ ist nicht nur irreführend, sondern verschleiert auch die wahren Ursachen der argentinischen Misere. In diesem Beitrag werden wir die komplexe Geschichte Argentiniens beleuchten und aufzeigen, wie ausländische Kräfte, internationale Finanzinstitutionen und lokale Eliten das Land seit über 200 Jahren systematisch ausbeuten.

  1. Die Anfänge der Verschuldung (1820er Jahre): Schon kurz nach seiner Unabhängigkeit von Spanien geriet Argentinien in die Fänge der internationalen Finanzwelt. 1824 erhielt das Land seinen ersten großen Kredit von der britischen Barings Bank. Von der geliehenen Million Pfund kamen nur 550.000 Pfund in Argentinien an - der Rest verschwand in Provisionen und Gebühren. Dies war der Beginn eines Musters, das sich über zwei Jahrhunderte fortsetzen sollte.
  2. Die Ära Perón und der erste Versuch des "dritten Weges": In den 1940er und 50er Jahren versuchte Juan Domingo Perón, einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu finden. Er förderte die Industrialisierung, stärkte Arbeitnehmerrechte und verfolgte eine Politik der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. 1955 wurde Perón durch einen von den USA unterstützten Militärputsch gestürzt - ein klares Zeichen, dass Versuche wirtschaftlicher Souveränität nicht geduldet wurden.
  3. Die Militärdiktatur und der neoliberale Schock (1976-1983): Die Militärjunta, die 1976 die Macht ergriff, führte mit Unterstützung der USA eine radikale neoliberale Politik ein. Unter Wirtschaftsminister Martínez de Hoz explodierten die Auslandsschulden von 4,6 Mrd. $ auf 25,6 Mrd. $. Die Industrie wurde demontiert, Finanzspekulation gefördert und das Land den internationalen Märkten schutzlos ausgeliefert. Diese Phase legte den Grundstein für viele spätere Probleme.
  4. Die Rückkehr zur Demokratie und die Hyperinflation: Nach dem Ende der Diktatur 1983 erbte die demokratische Regierung unter Raúl Alfonsín einen Schuldenberg und eine zerrüttete Wirtschaft. Trotz Bemühungen endete seine Amtszeit in einer Hyperinflationskrise - ein direktes Erbe der Diktatur, nicht des Sozialismus.
  5. Die Menem-Ära: Neoliberalismus in Reinform: Carlos Menem, der sich als Peronist ausgab, führte in den 1990er Jahren eine der radikalsten neoliberalen Politiken weltweit durch. Massive Privatisierungen, die Einführung der Peso-Dollar-Parität und weitere Deregulierungen führten zu einer kurzfristigen Scheinblüte, gefolgt von einem dramatischen Zusammenbruch.
  6. Die große Krise von 2001: Der Staatsbankrott von 2001 war das direkte Ergebnis der neoliberalen Politiken der vorherigen Jahrzehnte. Die soziale und wirtschaftliche Katastrophe zeigte deutlich das Scheitern des vom IWF und der Weltbank propagierten Modells.
  7. Die Kirchner-Ära: Versuche der Gegenwehr: Unter Néstor und Cristina Kirchner (2003-2015) versuchte Argentinien, sich von der neoliberalen Orthodoxie zu lösen. Die Rückzahlung der IWF-Schulden 2006, Umschuldungen mit privaten Gläubigern und eine stärker auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtete Politik führten zu wirtschaftlicher Erholung und Armutsreduzierung. Doch der Widerstand war enorm: "Geierfonds" klagten vor US-Gerichten, Medienkonzerne starteten Kampagnen gegen die Regierung, und internationale Finanzinstitutionen übten Druck aus.
  8. Die Macri-Regierung: Rückkehr zum Neoliberalismus und erneuter Absturz: Die Wahl von Mauricio Macri 2015 markierte eine Rückkehr zur neoliberalen Politik. In nur vier Jahren häufte seine Regierung massive neue Schulden an, deregulierte die Wirtschaft und führte das Land in eine neue Krise. Der IWF gewährte Argentinien 2018 den größten Kredit seiner Geschichte - nicht um dem Land zu helfen, sondern um Macri an der Macht zu halten und neoliberale Politiken durchzusetzen.
  9. Der Mythos vom "sozialistischen Scheitern": Angesichts dieser Geschichte ist es absurd, den Sozialismus für Argentiniens Probleme verantwortlich zu machen. Die größten wirtschaftlichen Katastrophen ereigneten sich unter rechten, neoliberalen Regierungen. Die wenigen Versuche einer sozialeren Politik wurden systematisch untergraben und sabotiert.

Fazit: Argentiniens Geschichte der letzten 200 Jahre ist geprägt von neokolonialer Ausbeutung, nicht von sozialistischem Scheitern. Internationale Finanzinstitutionen, ausländische Regierungen, Geierfonds und lokale Eliten haben das Land systematisch ausgeplündert und jede ernsthafte Bestrebung nach wirtschaftlicher Souveränität im Keim erstickt. Das Narrativ vom Scheitern des Sozialismus dient lediglich dazu, von den wahren Ursachen der argentinischen Misere abzulenken und die Fortsetzung der Ausbeutung zu rechtfertigen.

Die Zukunft Argentiniens hängt davon ab, ob es dem Land gelingt, sich aus den Fesseln dieser neokolonialen Strukturen zu befreien und einen eigenständigen Weg zu finden. Dies erfordert nicht nur interne Reformen, sondern auch eine grundlegende Neuordnung der globalen Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen.

Der jüngste Akt im argentinischen Drama: Javier Milei und der radikale Neoliberalismus

Die Wahl des selbsternannten "Anarchokapitalisten" Javier Milei zum Präsidenten im Dezember 2023 markiert eine neue, besorgniserregende Phase in Argentiniens Geschichte. Milei, der sich als Außenseiter inszeniert, setzt in Wahrheit die neokoloniale Ausbeutung mit noch radikaleren Mitteln fort.

Sein Programm liest sich wie ein Wunschzettel internationaler Finanzinstitutionen und Großkonzerne:

  1. Massiver Sozialabbau: Milei plant drastische Kürzungen bei Sozialleistungen, im Gesundheits- und Bildungssystem. Dies wird die ohnehin schon hohe Armut weiter verschärfen.
  2. Deregulierung und Privatisierung: Staatliche Unternehmen sollen privatisiert, Arbeitsschutzgesetze aufgeweicht und Umweltauflagen gelockert werden.
  3. Dollarisierung: Milei will den argentinischen Peso abschaffen und durch den US-Dollar ersetzen, was die wirtschaftliche Souveränität des Landes weiter untergräbt.
  4. Schuldenrückzahlung um jeden Preis: Er hat angekündigt, alle Schulden bei internationalen Gläubigern zu begleichen, auch wenn dies auf Kosten der Bevölkerung geht.

Mileis Politik ist ein Paradebeispiel dafür, wie der Mythos vom "sozialistischen Scheitern" instrumentalisiert wird, um noch radikalere neoliberale Maßnahmen durchzusetzen. Er präsentiert seine Agenda als "Rettung" vor dem Sozialismus, während er in Wirklichkeit die Ausplünderung Argentiniens durch internationale Finanzakteure und lokale Eliten intensiviert.

Die ersten Monate seiner Amtszeit waren geprägt von massiven Protesten gegen Preiserhöhungen, Entlassungen im öffentlichen Sektor und die geplante Abschaffung von Arbeitsrechten. Doch Milei bleibt unnachgiebig und bezeichnet Kritiker als "kommunistische Parasiten".

Mileis Präsidentschaft zeigt exemplarisch, wie der Kreislauf der Ausbeutung sich fortsetzt: Eine Krise, die durch neoliberale Politik verursacht wurde, wird als Vorwand genutzt, um noch extremere neoliberale Maßnahmen durchzusetzen. Dabei wird das Narrativ vom "gescheiterten Sozialismus" als Rechtfertigung verwendet, obwohl die wahren Ursachen in der langfristigen neokolonialen Ausbeutung liegen.

Die Zukunft Argentiniens unter Milei ist ungewiss, aber eines ist klar: Seine Politik wird die soziale Ungleichheit verschärfen und die Abhängigkeit des Landes von externen Akteuren weiter verstärken – ganz im Sinne jener Kräfte, die Argentinien seit zwei Jahrhunderten ausbeuten.


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