Die Transformation der Identitätspolitik
In einem wegweisenden Vortrag analysiert Prof. Dr. Bernd Stegemann die tiefgreifenden Veränderungen unserer gesellschaftlichen Diskurskultur. Als Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin verbindet er theoretische Analyse mit praktischer Theatererfahrung und hat sich als scharfsinniger Beobachter kultureller Entwicklungen etabliert.
Im Zentrum seines Vortrags steht die Transformation der Identitätspolitik. Stegemann zeigt, wie die ursprünglich linke Dekonstruktion von Identitätsbehauptungen eine neue, linke Identitätspolitik hervorgebracht hat. Diese unterscheidet sich zwar inhaltlich von rechten Strömungen, greift jedoch auf vergleichbare Mechanismen zurück. Seine jüngsten Werke – Identitätspolitik (2023) und Was vom Glauben bleibt. Wege aus der atheistischen Apokalypse (2024) – unterstreichen sein Engagement in gesellschaftspolitischen Debatten und ergänzen die zentralen Thesen seines Vortrags.
Das Paradox des strategischen Essentialismus
Stellen wir uns folgende Situation vor: Eine indische Witwe im 19. Jahrhundert. Nach traditionellem Brauch soll sie mit ihrem toten Mann verbrannt werden. Sie hat genau zwei Möglichkeiten:
- Sie fügt sich dem grausamen Ritual ihrer eigenen Kultur
- Sie bittet die britischen Kolonialherren um Hilfe, die dieses Ritual verbieten
Klingt erst mal einfach, oder? Aber hier kommt der Knackpunkt: Egal was sie tut, sie ist in der Falle. Folgt sie der Tradition, stirbt sie. Wendet sie sich an die Briten, unterwirft sie sich der Kolonialmacht, die ihr Land unterdrückt. Sie kann nicht frei entscheiden - sie kann nur wählen, von wem sie unterdrückt werden will.
Dieses Dilemma nutzt die indische Denkerin Spivak, um etwas Grundsätzliches zu zeigen: Menschen in unterdrückten Positionen haben oft keine eigene Stimme. Ihre einzige Chance ist es, sich künstlich eine "eigene Identität" zu erschaffen - auch wenn diese Identität eigentlich nur eine strategische Erfindung ist.
Genau dieses Muster sehen wir heute in der modernen Identitätspolitik: Gruppen erschaffen sich eine gemeinsame Identität als politische Strategie - obwohl sie gleichzeitig wissen, dass diese Identität ein künstliches Konstrukt ist. Ein faszinierendes Paradox, das unsere heutigen Debatten prägt.
Doch während die indische Witwe vor einer real existenziellen Entscheidung stand - Tod durch Verbrennung oder koloniale Unterwerfung -, wird dieses Konzept heute in einer pervertierten Form genutzt: Subjektive Befindlichkeiten und behauptete Verletzungen werden zu Waffen im gesellschaftlichen Diskurs. Was einst eine Überlebensstrategie der wahrhaft Unterdrückten war, dient nun als Instrument zur Durchsetzung von Deutungshoheit. Jedes kritische Wort wird zum "Gewaltakt" erklärt, jede abweichende Meinung zur "Mikroaggression".
Dies zeigt sich exemplarisch in der absurden Unterscheidung zwischen "schwarz" als Farbe und "Schwarz" als politischem Konzept: Während People of Color sich selbst als "Schwarz" identifizieren dürfen, wird dieselbe Bezeichnung aus dem Mund eines Weißen zum Skandal - selbst wenn sie respektvoll oder in einem akademischen Kontext verwendet wird. Die vorgebliche Verletzlichkeit wird zum Machtinstrument, mit dem nicht nur festgelegt wird, wer was sagen darf, sondern auch, wer überhaupt das Recht hat, bestimmte Konzepte für sich zu beanspruchen. Ein perfides System der Sprachkontrolle, in dem die gleichen Worte, je nach Hautfarbe des Sprechers, entweder legitimer Ausdruck von Identität oder verwerflicher Akt der Diskriminierung sein können. So werden legitime Debatten im Keim erstickt, noch bevor sie beginnen können.
Die Doppellogik der Identitätsbehauptung
Besonders aufschlussreich ist Stegemanns Analyse der daraus entstehenden Doppellogik:
- Die Identität wird einerseits als Konstrukt erkannt und dekonstruiert
- Gleichzeitig wird sie als politisches Instrument essentialistisch behauptet
Diese Paradoxie manifestiert sich beispielhaft in der Unterscheidung zwischen "schwarz" als Farbbeschreibung und "Schwarz" als politischem Konzept. Die Großschreibung markiert dabei nicht nur eine linguistische Differenz, sondern etabliert eine komplexe Hierarchie der Deutungshoheit: Wer darf das Konzept für sich beanspruchen? Wer bestimmt die Regeln dieser Beanspruchung?
Gefühle als Waffe: Die neue Art der Macht
Stellen Sie sich eine alltägliche Szene vor: Ein Ehepaar sitzt im Wohnzimmer. Die Frau zittert leicht - ihr ist kalt. Der Mann sieht das und fragt: "Soll ich das Fenster schließen?" Eine ganz normale, harmlose Situation.
Aber was im Privaten funktioniert, wird in der öffentlichen Debatte zur Waffe. Hier ein Beispiel aus den sozialen Medien:
Person A postet: "Ich fühle mich von diesem Buch verletzt."
- Wenn Sie jetzt sagen: "Das war doch gar nicht so gemeint", sind Sie unsensibel.
- Wenn Sie sagen: "Lass uns sachlich darüber reden", unterdrücken Sie Gefühle.
- Wenn Sie die Gefühle ignorieren, sind Sie Teil des Problems.
Der Trick dabei: Die Person, die ihre Gefühle äußert, hat alle Macht. Sie allein entscheidet:
- Ob ihre Gefühlsäußerung eine Botschaft war oder nicht
- Ob Ihre Reaktion darauf angemessen war
- Ob Sie als mitfühlender Mensch oder als Unterdrücker dastehen
Es ist wie ein Spiel, bei dem ein Spieler gleichzeitig die Regeln macht und als Schiedsrichter auftritt. Auf Twitter, in Talkshows, in öffentlichen Debatten - überall sehen wir dieses Muster. Gefühle werden zu unantastbaren Argumenten. Wer sie in Frage stellt, macht sich schuldig.
Die vorpolitische Hegemonie
Stegemann identifiziert den vorpolitischen Raum als das eigentliche Schlachtfeld dieser Auseinandersetzungen. Hier, wo Deutungshoheiten über Werte, Sprache und Ausdrucksweisen verhandelt werden, findet der eigentliche Kampf statt - lange bevor er die Arena der formalen Politik erreicht.
Die Regression der Aufklärung
In der Verknüpfung mit Preparatas Analyse der "Ideologie der Tyrannei" zeigt sich ein beunruhigendes Muster: Die Regression hinter zentrale Errungenschaften der Aufklärung:
- Die Aufhebung der Trennung zwischen:
- Person und Argument
- Rolle und Darsteller
- Zitat und Überzeugung
- Die Entstehung neuer Dogmen:
- Die Unantastbarkeit subjektiver Gefühlsäußerungen
- Die Autorität selbsterklärter Betroffenheit
- Die moralische Überhöhung partikularer Perspektiven
Diese Regression manifestiert sich heute in systematischer Form: Über 1000 Bewegungen und Initiativen, unterstützt von staatlich geförderten Stiftungen, überwachen den öffentlichen Diskurs. Mit Hilfe von Watch-Blogs und Social-Media-Accounts werden Texte, Äußerungen und sogar wissenschaftliche Arbeiten nach "problematischen" Formulierungen durchsucht. Dabei werden selbst neutrale Begriffe wie "TTIP", "Gentechnik" oder "Internationale Finanzströme" automatisch als verdächtig eingestuft - unabhängig vom Kontext oder der Argumentation.
Die Aufklärung wird so durch eine neue Form der Verdunkelung ersetzt: Statt Argumente zu prüfen, werden Worte tabuisiert. Statt Diskurse zu führen, werden Sprachverbote erlassen. Eine Armee von selbsternannten Sprachpolizisten wacht über die Einhaltung dieser neuen Orthodoxie, während die eigentlichen Inhalte und Argumente in den Hintergrund treten.
Der Erdogan-Moment
Besonders aufschlussreich ist Stegemanns Analyse, wie selbst ein als autoritär geltender Politiker wie Erdogan die Mechanismen der Identitätspolitik für seine Zwecke erkannt und instrumentalisiert hat. In einem bemerkenswerten Interview rechtfertigte er die Verfolgung von Journalisten mit einer Logik, die der westlichen Identitätspolitik verblüffend ähnelt: "Wer einen Terroristen interviewt, unterstützt den Terrorismus. Wer die Gedanken eines Terroristen veröffentlicht, verbreitet Terrorismus." Diese Gleichsetzung von Berichterstattung und Unterstützung zeigt die fundamentale Logik identitätspolitischer Diskurskontrolle in ihrer reinsten Form.
Während Erdogan diese Logik offen als Machtinstrument einsetzt, zeigt sich in westlichen Demokratien ein subtilerer, aber nicht minder problematischer Mechanismus. Dies wird besonders deutlich am Beispiel der Höcke-Kontroverse um das "Mahnmal der Schande". Höcke sprach vom Mahnmal als Symbol für die Schande des deutschen Volkes angesichts des Holocausts - also die Schande der historischen Tat selbst und unserer Verantwortung dafür. Seine Kritiker ignorierten diese Bedeutungsebene bewusst und deuteten die Aussage um, als sei das Mahnmal selbst als Schande bezeichnet worden.
Diese beiden Fälle zeigen verschiedene Seiten derselben diskursiven Macht:
- Bei Erdogan: Die offene Nutzung identitätspolitischer Logik zur Unterdrückung
- Bei Höcke: Die gezielte Umdeutung von Aussagen zur politischen Delegitimierung
Das Muster ist dabei stets dasselbe:
- Wer rassistische Äußerungen historisch dokumentiert, gilt selbst als Rassist
- Wer über Verschwörungstheorien berichtet, wird als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt
- Wer bestimmte Begriffe auch nur zitiert oder analysiert, macht sich ihrer "schuldig"
Die Differenzierung zwischen Darstellung und Bewertung, zwischen Zitat und eigener Aussage wird bewusst aufgehoben. Der Kontext wird ignoriert, die Intention verdreht - es zählt nur noch die möglichst skandalträchtige Interpretation.
Die Absurdität der neuen Zensur: Eine Chronik der Karrierevernichtung
Besonders deutlich wird die irrationale Dimension der neuen Diskurskontrolle am Fall des renommierten New York Times-Redakteurs Donald McNeil Jr. Nach einer 45-jährigen tadellosen Karriere, gekrönt von einem Pulitzer-Preis für seine herausragende Berichterstattung über die Corona-Pandemie, wurde er 2021 zum Rücktritt gedrängt. Sein "Vergehen"? Während einer Bildungsreise mit Studenten hatte er in einer Diskussion über Rassismus das N-Wort zitiert - nicht benutzt, sondern lediglich im akademischen Kontext zitiert.
Die Liste solcher Karrierevernichtungen wird stetig länger:
- Der Fall James Bennet: Als Meinungsressortleiter der New York Times musste er zurücktreten, nachdem er einen kontroversen Artikel eines republikanischen Senators veröffentlicht hatte - obwohl das genau seine Aufgabe war, verschiedene Perspektiven zu präsentieren.
- Professor Gregory Patton von der University of Southern California wurde suspendiert, weil er in einer Vorlesung über die chinesische Sprache ein chinesisches Wort verwendete, das ähnlich wie ein englisches Schimpfwort klingt.
- Die Kuratorin Ginny Trask wurde entlassen, weil sie in einer Diskussion über diskriminierende Kunst historische Begriffe im Zitat verwendete.
- Gary Garrels, langjähriger Chefkurator des San Francisco Museum of Modern Art, wurde zum Rücktritt gedrängt, weil er sagte, das Museum würde weiterhin auch Kunst weißer Männer sammeln - eine Aussage, die als "rassistisch" gebrandmarkt wurde.
Die Groteske des McNeil-Falls ging noch weiter: Die New York Times behielt den Pulitzer-Preis für seine Corona-Berichterstattung, trennte sich aber von ihrem preisgekrönten Journalisten. Die Botschaft war unmissverständlich: Selbst vier Jahrzehnte journalistischer Exzellenz, selbst die höchste Auszeichnung des Berufsstands, bieten keinen Schutz vor der neuen Sprach- und Denkkontrolle.
Diese Fälle zeigen ein erschreckendes Muster:
- Sofortige Verurteilung ohne Kontext
- Keine Chance auf Verteidigung oder Erklärung
- Unverhältnismäßige Härte der Sanktionen
- Unwiderruflichkeit der sozialen Ächtung
- Vollständige Vernichtung der beruflichen Existenz
Besonders beunruhigend ist dabei die Willkür: Oft reicht ein einzelner Tweet, ein aus dem Kontext gerissenes Zitat oder eine missverständliche Formulierung, um jahrzehntelange Karrieren zu zerstören. Die Message ist klar: Niemand ist sicher, keine Leistung schützt, keine Entschuldigung wird akzeptiert. Es ist, wie Stegemann betont, eine neue Form der sozialen Hinrichtung - ohne Richter, ohne Verteidigung, ohne Berufung.
Conclusio
Die aktuelle Entwicklung zeigt sich als paradoxe Regression: Im Namen der Emanzipation werden emanzipatorische Errungenschaften demontiert. Die Mechanismen der Diskurskontrolle werden dabei immer subtiler, während ihre Wirkung immer totaler wird. Wie unsere historischen Beispiele zeigen, wiederholt sich dabei ein beunruhigendes Muster: Ob CIA-gesteuerte Kunstförderung, Theater-Zensur oder moderne Cancel Culture - stets werden im Namen der Freiheit die Grundpfeiler dieser Freiheit erschüttert.
Was früher offene Repression war, kommt heute im Gewand der Befreiung daher. Die neuen Wächter der "korrekten" Sprache und des "richtigen" Denkens unterscheiden sich in ihren Methoden kaum von ihren historischen Vorgängern: Bücher werden aus Bibliotheken entfernt, Karrieren vernichtet, Existenzen zerstört. Nur geschieht dies nicht mehr im Namen einer staatlichen Autorität, sondern im Namen von Toleranz und Fortschritt.
Die eigentliche Gefahr liegt dabei nicht in einzelnen überzogenen Reaktionen, sondern in der systematischen Aushöhlung grundlegender aufklärerischer Prinzipien: der Trennung von Person und Argument, der Unterscheidung zwischen Darstellung und Befürwortung, der Möglichkeit einer rationalen Debatte. Wenn selbst das Zitieren eines Wortes zur sozialen Ächtung führen kann, wenn historische Dokumente nur noch in "gereinigter" Form präsentiert werden dürfen, wenn wissenschaftliche Analyse durch moralische Empörung ersetzt wird, dann stirbt mit der Sprache auch das Denken.
Die Herausforderung unserer Zeit besteht darin, diese Entwicklung nicht nur zu erkennen, sondern ihr aktiv entgegenzutreten - ohne dabei selbst in die Falle vereinfachender Kulturkampf-Narrative zu tappen. Es gilt, die Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen: die Freiheit des Denkens, des Sprechens, des künstlerischen Ausdrucks. Denn eine Gesellschaft, die ihre Geschichte nicht mehr unverfälscht betrachten, ihre Gegenwart nicht mehr frei diskutieren und ihre Zukunft nicht mehr offen denken kann, hat ihre geistige Freiheit bereits verloren.
Video des Vortrags von Prof. Dr. Bernd Stegemann
Diese Analyse basiert auf dem Vortrag von Prof. Dr. Bernd Stegemann, Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Berlin, und setzt sich mit den theoretischen Grundlagen und praktischen Manifestationen moderner Identitätspolitik auseinander.
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