Die Mär vom "einfach selbst kochen" im Bürgergeld entlarvt
Stellen Sie sich vor, Sie müssen drei Mahlzeiten am Tag zubereiten – mit nur 1,52€ pro Mahlzeit. Nicht für einen Tag oder eine Woche, sondern dauerhaft. Unmöglich? Genau diese Realität erleben täglich Millionen Bürgergeldempfänger in Deutschland.
Die nackte Wahrheit in Zahlen
Der aktuelle Bürgergeld-Regelsatz sieht 195,39€ monatlich für Ernährung vor. Klingt nach einer ordentlichen Summe? Bei näherer Betrachtung offenbart sich die bittere Realität:
- 6,51€ täglich für Essen UND Trinken
- Davon 0,80€ für Getränke (= nur Leitungswasser ist möglich)
- Verbleiben 5,71€ für drei Mahlzeiten = 1,90€ pro Mahlzeit
- 10-20% Schwund (laut DGE) ist nicht eingerechnet
Mit tatsächlichem Schwund bleiben realistisch nur 1,52-1,71€ pro Mahlzeit. Zum Vergleich: Eine einfache Suppe im Restaurant kostet 5-7€ – also mehr als das GESAMTE Tagesbudget eines Bürgergeldempfängers.
Was eine gesunde Ernährung wirklich kostet
Unabhängige Berechnungen zeigen, dass eine Ernährung nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) tatsächlich deutlich teurer ist:
- Für eine ausgewogene Ernährung nach DGE-Standard benötigt ein Erwachsener mindestens 220-380€ monatlich
- Selbst bei ausschließlicher Wahl der günstigsten Lebensmittel und Verzicht auf jegliche Getränke außer Leitungswasser entsteht eine Lücke von mindestens 46€ zum Regelsatz
- Mit realistischem Schwund von 10-20% steigt diese Diskrepanz auf 63-81€
Fast alle wissenschaftlichen Untersuchungen kommen zu dem gleichen Ergebnis. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags fasst in einer umfassenden Dokumentation von 2022 zusammen: "Von allen acht eigenständigen empirischen Studien und sonstigen Fachäußerungen, die ausgewertet wurden, kommt nur eine Arbeit zu dem Ergebnis, dass der Betrag ausreicht, und genau diese Arbeit ist extrem umstritten."
Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband berechnete 2020 konkret die Deckungslücke je nach Haushaltskonstellation:
- Bei einer alleinstehenden Frau: etwa 14€ monatlich
- Bei einem alleinstehenden Mann: etwa 45€ monatlich
- Bei einem Paar mit zwei Kindern: etwa 123€ monatlich
Besonders dramatisch: Die Situation der Kinder
Für Kinder und Jugendliche stellt sich die Situation noch dramatischer dar. Der aktuelle Ernährungsanteil im Bürgergeld beträgt:
- 0 bis 5 Jahre: ca. 124€ monatlich (4,13€ täglich)
- 6 bis 13 Jahre: ca. 135€ monatlich (4,50€ täglich)
- 14 bis 17 Jahre: ca. 163€ monatlich (5,43€ täglich)
Diese Beträge liegen deutlich unter dem, was Ernährungswissenschaftler als notwendig erachten. Studien wie die von Kersting & Clausen (2007) haben nachgewiesen, dass selbst bei ausschließlichem Einkauf in Discountern eine gesunde Kinderernährung nach dem Konzept der "Optimierten Mischkost" nicht finanzierbar ist. Die Deckungslücke wird mit zunehmendem Alter größer:
- Bei 4-6-Jährigen: etwa 18% zu wenig
- Bei 7-9-Jährigen: etwa 34% zu wenig
- Bei 10-12-Jährigen: etwa 45% zu wenig
- Bei 13-17-Jährigen: etwa 40% zu wenig
Besonders besorgniserregend: In der Entwicklungsphase von Kindern und Jugendlichen sind die Folgen von Mangelernährung besonders gravierend und teilweise irreversibel, wie die Studienergebnisse zu stunting (Wachstumsverzögerung) und kognitiven Einschränkungen belegen.
Besonders bemerkenswert: Während die tatsächlichen Lebensmittelpreise seit 2000 kontinuierlich gestiegen sind, werden die offiziellen "wissenschaftlichen" Berechnungen zu den Kosten einer gesunden Ernährung immer günstiger. Im Jahr 2000 wurden noch 7-8€ täglich für eine ausgewogene Ernährung mit 2000 kcal veranschlagt – heute soll dieselbe Ernährung angeblich für knappe 6€ möglich sein, trotz einer Inflation von über 40% bei Lebensmitteln in diesem Zeitraum. Bedenkt man, dass der tatsächliche Tagesbedarf für einen durchschnittlichen Erwachsenen bei etwa 2500 kcal liegt, müssten die realen Kosten noch etwa 25% höher angesetzt werden. Damit wächst die Diskrepanz zwischen offiziellem Regelsatz und tatsächlichem Bedarf noch dramatischer.
Die "wissenschaftliche" Rechtfertigung
Eine aktuelle Studie aus dem Bundesgesundheitsblatt (Januar 2025) behauptet, der Ernährungsanteil im Bürgergeld sei knapp ausreichend für eine gesunde Ernährung nach dem Konzept der "Optimierten Mischkost" (OMK). Doch die Voraussetzungen dieser Studie sind realitätsfremd:
- Ausschließlich die günstigsten Preise im Einzelhandel wurden berücksichtigt
- Kein Lebensmittelschwund einkalkuliert
- Perfekte Selbstherstellung aller Speisen angenommen
- Nur kostenloses Leitungswasser als Getränk
- Keine soziale Teilhabe berücksichtigt
- Kein Gefrierschrank zur Vorratshaltung eingerechnet
Selbst mit diesen unrealistischen Annahmen bleibt nur ein winziger "Puffer" von 2,45-8,86€ monatlich. Ein einziger nicht optimaler Einkauf – und diese Reserve ist aufgebraucht.
"Koch doch einfach selbst!" – Wovon? Womit? Wo lagern?
Die Realität zeigt: Traditionelles Kochen von Grund auf ist unter den gegebenen Bedingungen oft unmöglich. Was frühere Generationen als "richtiges Kochen" bezeichneten, umfasste Praktiken, die heute für Bürgergeldempfänger strukturell unmöglich sind:
- Grundfonds und -saucen selbst herstellen: Die Basis der klassischen Küche - Fonds und Grundsaucen, aus denen alle weiteren Gerichte entwickelt werden - erfordern lange Kochzeiten (4-8 Stunden) und damit hohe Stromkosten
- Fermentieren und Einkochen: Sauerkraut, Rotkraut und Gemüse selbst einlegen und haltbar machen - eine traditionelle Methode der Vorratshaltung - erfordert spezielle Ausstattung und Lagerräume
- Fleisch vollständig verwerten: Eine Karkasse für Brühe verwenden, Knochen für Fond auskochen - ohne Gefrierfach unmöglich zu lagern
Ein konkretes Beispiel: Die Zubereitung eines hochwertigen Rinderfonds (2 Liter) kostet mit Zutaten und Strom etwa 17,20€, während eine Packung Brühwürfel aus dem Discounter für etwa 1,50€ bereits 6 Liter Brühe ergibt. Diese industriellen Produkte enthalten allerdings oft kaum echtes Fleisch (typischerweise nur 0,1% Fleischpulver) und bestehen hauptsächlich aus Geschmacksverstärkern, künstlichen Aromen und Salz.
Der Grund für diesen enormen Preisunterschied zwischen traditionellem Kochen und Industrieprodukten:
- Kein Gefrierschrank erlaubt: Gerichtlich abgelehnt als "nicht notwendig" – obwohl er für eine effiziente Küche unerlässlich ist
- Stromkosten massiv unterfinanziert: Im Regelsatz sind nur etwa 41€ monatlich für Strom, Wohnungsinstandhaltung und weitere haushaltsbezogene Ausgaben vorgesehen – davon bleibt für Strom oft nur ein Bruchteil übrig, wodurch lange Kochzeiten für Fonds und Brühen kaum finanzierbar sind
- Keine Vorratshaltung möglich: Kleine Wohnungen ohne adäquate Lagerräume
- Verwertung unmöglich: Ohne Gefrierfach können Reste wie Knochen, Gemüseabschnitten oder Fleischreste nicht für spätere Verwendung aufbewahrt werden
Wie soll jemand...
- stundenlang Knochenbrühe kochen?
- Gemüsereste für spätere Suppen aufbewahren?
- größere Mengen zubereiten und portionsweise einfrieren?
- Sonderangebote nutzen ohne Lagermöglichkeit?
Der Zirkelschluss der Bevormundung
Besonders perfide: Politisch und medial wird Bürgergeldempfängern oft mangelnde Kochkompetenz unterstellt. Gleichzeitig werden ihnen die strukturellen Voraussetzungen für effizientes Kochen verweigert.
Dieses widersprüchliche Argumentationsmuster wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Wie soll jemand Kochkompetenzen entwickeln, wenn ihm die dafür notwendige Ausstattung verweigert wird? Während von wohlhabenden Menschen nicht erwartet wird, dass sie kochen können (sie können es sich leisten, essen zu gehen oder Personal zu beschäftigen), werden ärmere Menschen moralisch dafür verurteilt, wenn sie auf Fertiggerichte zurückgreifen müssen.
Die Folgen: Double-Burden und versteckter Hunger
Die Konsequenzen dieser strukturellen Ernährungsarmut sind wissenschaftlich belegt:
- Double-Burden-Phänomen: Übergewicht bei gleichzeitigem Nährstoffmangel
- Stunting bei Kindern: Irreparable Wachstumsverzögerungen
- Kognitive Einschränkungen: 15-mal häufigere Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern aus einkommensschwachen Familien
- Nachweisbare Veränderungen im Hippocampus
Professor Biesalski berichtete im Bundestagsausschuss für Landwirtschaft: "Kinder aus armen Verhältnissen in Brandenburg werden entgegen dem Trend kleiner. Das nennt man stunting, d.h. eine verringerte Körperlänge im Verhältnis zum Alter. Und stunting ist letztendlich nicht mehr reparabel." Bei Schuleingangsuntersuchungen seien Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern aus armen Verhältnissen 15-mal häufiger als bei Kindern aus wohlhabenden Familien.
Kabisch et al. (2021) kamen in ihrer Studie zum überraschenden Ergebnis, dass in Deutschland keine der untersuchten Ernährungsweisen – selbst die günstigste Alternative (fettarme vegetarische Ernährung) – mit einem Monatsbudget von 150 Euro pro Erwachsenem (ALG II) zu realisieren ist.
Diese biologischen Folgen der Mangelernährung haben nichts mit fehlendem Willen oder mangelnden Kochkenntnissen zu tun. Es sind die direkten Konsequenzen eines Systems, das Menschen strukturell von einer ausgewogenen Ernährung ausschließt.
Die systematische Abwärtsspirale der Berechnungen
Ein besonders aussagekräftiges Beispiel für die systematische Abwärtsspirale der offiziellen Kostenberechnungen zeigt sich im historischen Vergleich:
- 2008: Ernährungswissenschaftler Mertens & Hoffmann berechneten die Kosten einer gesunden Mischkost für Erwachsene auf etwa 260€ monatlich bzw. 8,60€ täglich
- 2007: Die Ernährungswissenschaftlerinnen Kersting & Clausen ermittelten, dass selbst bei ausschließlichem Einkauf in Discountern gesunde Kinderernährung mit den Regelsätzen nicht finanzierbar war
- 2022: Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags stellt fest, dass von acht untersuchten Studien und Fachäußerungen sieben übereinstimmend zu dem Ergebnis kommen, dass die Regelsätze nicht ausreichen
- 2024: Das aktuelle Budget von 195,39€ monatlich (6,51€ täglich) soll plötzlich ausreichen
Was ist in diesen Jahren passiert? Die Lebensmittelpreise sind um über 40% gestiegen, während die offiziellen Berechnungen zur "gesunden Ernährung" systematisch nach unten korrigiert wurden. Während 2008 noch anerkannt wurde, dass eine ausgewogene, gesunde Ernährung etwa 8,60€ täglich kostet, sollen heute 6,51€ für dieselbe Ernährungsqualität ausreichen - trotz drastischer Preissteigerungen.
Besonders irreführend ist die Argumentation mancher Studien, dass eine gesunde Ernährung möglich sei, wenn man "alles selbst kocht" - vom Brot über Suppen bis zu eingekochtem Obst und Gemüse. Diese Berechnungen ignorieren komplett die energieintensiven Herstellungsprozesse. Wer soll mit dem fixen, unzureichenden Stromkontingent im Regelsatz täglich Brot backen, stundenlang Fonds kochen und regelmäßig Obst und Gemüse einwecken? Hier wird ein romantisiertes Bild der Haushaltsführung gezeichnet, das mit der Realität der Energiekosten und -grenzen nichts zu tun hat.
Diese systematische Reduzierung der anerkannten Bedarfe läuft parallel zur Einführung und Fortentwicklung der Hartz-Reformen und dient letztlich der Rechtfertigung immer knapperer Regelsätze. Ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse werden dabei zugunsten fiskalischer Interessen ignoriert oder uminterpretiert.
Besonders tragisch ist die Situation für Erwerbsminderungsrentner und Schwerbehinderte, die auf Grundsicherung nach SGB XII angewiesen sind. Während für Bürgergeld-Empfänger zumindest theoretisch die Hoffnung besteht, irgendwann durch Arbeitsaufnahme ihre Situation zu verbessern, haben diese Menschen keinerlei Aussicht auf Veränderung. Sie sind dauerhaft auf einen Regelsatz angewiesen, der nachweislich keine gesunde Ernährung ermöglicht – nicht für ein paar Monate, sondern für den Rest ihres Lebens.
Das System ist nicht darauf ausgelegt, Menschen zu befähigen, sich gesund zu ernähren. Es zwingt sie in eine Ernährungsweise, die langfristig zu genau jenen gesundheitlichen Problemen führt, die später dem individuellen Fehlverhalten zugeschrieben werden.
Solange wir nicht bereit sind, diese Realität anzuerkennen und die strukturellen Ursachen von Ernährungsarmut zu bekämpfen, werden wir weiterhin Millionen Menschen in Deutschland einer vermeidbaren gesundheitlichen Benachteiligung aussetzen – während wir ihnen gleichzeitig die Schuld dafür geben.
Dieser Beitrag basiert auf aktuellen wissenschaftlichen Studien, gerichtlichen Dokumenten und den realen Erfahrungen von Bürgergeldempfängern. Er soll dazu beitragen, die öffentliche Diskussion über Ernährungsarmut auf eine faktenbasierte Grundlage zu stellen.
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