Es ist hohe Zeit, nicht nur von den großen Kriegen zu sprechen, sondern auch von dem kleinen Krieg, der den Alltag verwüstet und der keinen Waffenstillstand kennt: von dem Krieg im Frieden, seinen Waffen, Folterinstrumenten und Verbrechen, der uns langsam dazu bringt, Gewalt und Grausamkeit als Normalzustand zu akzeptieren. Krankenhäuser, Gefängnisse, Irrenhäuser, Fabriken und Schulen sind die bevorzugten Orte, an denen dieser Krieg geführt wird, wo seine lautlosen Massaker stattfinden, seine Strategien sich fortpflanzen - im Namen der Ordnung.
Das große Schlachtfeld ist der gesellschaftliche Alltag. Was heißt das? Krankenhäuser und Pharmazeutika-Betriebe sind Quellen der Zerstörung (eine amerikanische Statistik weist nach, daß 80% der Medikamente dazu verwendet werden, Krankheiten zu kurieren, die von Medikamenten hervorgerufen worden sind). Die Gefängnisse erzeugen mehr Delinquenz, als sie aufnehmen können. Die Irrenhäuser schaffen sich ihre Kranken nach Maß, d. h. sie produzieren Passivität, Apathie und deformieren die Persönlichkeitsstruktur der Insassen. In den Fabriken sind die Arbeiter gezwungen, unter gesundheitsschädlichen und abstumpfenden operativen Bedingungen zu arbeiten - die »weißen Toten« sind eingeplant als Preis, den der industrielle Fortschritt »verlangt«.
Die Schulen, in denen nicht mehr sinnvoll gelehrt wird und die dem Erziehungskonzept längst abgeschworen, es durch Trainingsprogrammatiken ersetzt haben, besorgen rechtzeitig die präventive Entmutigung desjenigen, von dem es später heißen wird, daß er nicht >gelernt< habe und nicht >erzogen< worden sei. Die Studenten, die die Reorganisation des Unterrichtswesens fordern und eine Zukunftsperspektive einklagen, werden der Störung der öffentlichen Ordnung verdächtigt. Das Universitätsstudium verhilft zwar zu Zertifikaten, aber es vermittelt keine Qualitäten mehr, die knapper werdenden Arbeitsplätze für Akademiker erobern sich diejenigen, die im Ausland oder an den von der Industrie finanzierten Spezialinstituten ausgebildet worden sind, das Land ist voll von arbeitslosen bzw. unterbeschäftigten Hochschulsolventen. Meere und Flüsse tragen den chemischen Tod in ihren Wassern, und erst jetzt, angesichts dieser generellen Verseuchung, werden Entschmutzungs- und Filteranlagen entwickelt, die man hätte planen müssen, um dem biologischen Kollaps zuvorzukommen, statt den Arzt zu rufen, wenn der Patient bereits in der Agonie liegt.
Und so weiter. Und all dies im Namen des Gemeinwohls, im Zeichen des wirtschaftlichen Wachstums, das dem Menschen Wohlstand und Glück bescheren soll. Welche Art Glück? Welchem Menschen? In Krisensituationen haben die abstrakten Konzepte vom »Menschen« Hochkonjunktur. Der Fortschritt der Wissenschaft, der Fortschritt der Zivilisation geschehen im Namen dieses abstrakten Menchen. Zur vorgeblichen Befriedigung seiner vorgeblichen Bedürfnisse rotieren die Technologie, die Industrie, das Großkapital, frißt sich der »Fortschritt« immer tiefer in die mentalen, psychischen, kulturellen und natürlichen Gewebe des Gesellschaftskörpers. Die wirtschaftliche Logik bestimmt, was menschlich und was nicht menschlich ist, was gesund und was krank ist, was schön und was häßlich ist, was korrekt und was verwerflich ist, jeweils nach den Umständen.
Das ist mittlerweile so selbstverständlich geworden, daß man sich fast geniert, es noch zu erwähnen. Gleichwohl dauert die Vortäuschung gigantischer Freiheitsgewinne der Menschheit an. Und die Wissenschaften sind eine der Quellen dieser Heuchelei: Sie haben nicht nur der Verwechslung der Perfektionierung der Mittel mit der Evolution der Freiheit Vorschub geleistet; sie haben auch den Begriff der Freiheit selbst formalisiert und instrumentalisiert. Irrenhaus und Gefängnis - um uns auf die zwei Gegenstandsfelder zu konzentrieren, von denen in diesem Buch insbesondere die Rede ist - sind exemplarische institutionelle Ausdrücke dieser Entwicklung.
In ihnen hat sich ein folgenreiches Selbstverständnis von Wissenschaft abgebildet: die Ideologie der Befriedung der Gesellschaft durch Ausschließung bzw. Einschließung der Störer. Jahrhundertelang sind Delinquente, Verrückte, Prostituierte, Homosexuelle, Alkoholiker, Diebe und Sonderlinge gleichermaßen und unterschiedslos aufgrund ihrer Abweichung von der Norm und deren Regeln aus dem gesellschaftlichen Verkehr ausgestoßen worden. Die Mauern des Asyls umschlossen und verbargen den Besessenen, den Wahnsinnigen (als Verkörperung des Bösen, eines unfreien und unzurechnungsfähigen Geistes) zusammen mit dem Delinquenten (als Verkörperung des absichtlichen, verantwortlichen Bösen). Wahnsinn und Delinquenz fungierten als Exterritorialisierungskriterien.
Nur sehr zögernd begann die Wissenschaft, diese Kriterien zu differenzieren. Die neue, aufklärerische Rationalität definierte das Gefängnis als Strafinstitution für denjenigen, der die im Gesetz verkörperten Normen verletzt hatte (einem Gesetz, das das Eigentum schützt, das das richtige öffentliche Verhalten bestimmt, das die Autorität, die Machtverteilung festlegt). Und den Geisteskranken, den Sonderling, der sein Leben an Normen orientierte, die seiner Vernunft und seinem Wahn entstammten, definierte man als Kranken, den es in einer Institution zu separieren gelte, die die Grenze zwischen Vernunft und Wahn klar zog, da er die öffentliche Ordnung durch Skandal oder Bedrohung irritierte.
Doch trotz dieser Differenzierung blieb die Aufgabe beider Institutionen die nämliche: Schutz und Verteidigung der >Norm<, Hospitalisierung der Ungleichen, Abwehr des Andersartigen. Die Wissenschaft unterschied Delinquenz und Wahnsinn, indem sie beiden einen neuen Status zuschrieb. Sie verwandelte den Wahnsinn in eine Abstraktion durch seine Bestimmung in Begriffen von Krankheit; und sie verwandelte die Delinquenz in einen Forschungsgegenstand. Doch trotz der formalen Separierung der beiden abstrakten Entitäten Delinquenz und Krankheit in zwei getrennten Deutungen und Institutionen blieb der enge Zusammenhang beider mit der Maxime der Ordnung praktisch bestehen. Weder die Delinquenten, die für einen auf die Gesellschaft verübten Übergriff büßen müssen, noch die Wahnsinnigen, die für ihr unangepaßtes Verhalten bezahlen müssen, sind jemals wirklich als Menschen wahrgenommen worden. Die für sie errichteten Institutionen (zu ihrer »Besserung« und »Buße« einerseits, zu ihrer »Behandlung« und »Wiederherstellung« andererseits) haben ihre Funktion und ihren Charakter nicht geändert. Die Herausbildung neuer Theorien und Klassifikationen hat das Verhältnis zwischen der »zivilen« Gesellschaft und den von ihr gewaltsam Ausgebürgerten nicht angetastet.
In Ländern, deren ökonomisch-sozialer Entwicklungsstand noch keinen gesonderten institutionellen Überbau zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionsfähigkeit erfordert, ist die Devianz nach wie vor das Objekt undifferenzierter Einsperrung, unverhüllter Gewalt. Noch wurde dort die Wissenschaft nicht auf den Plan gerufen, um ihr Kolonialisierungswerk durch Unterscheidung des Abnormen in Gang zu setzen. Noch sind dort die »Vorteile«, die diese Unterscheidung mit sich bringt, nicht bekannt. Zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung genügt noch die Gewalt oder die Gewaltandrohung. In diesen Ländern wird die Folter zum organisatorischen Hebel der gesellschaftlichen Normierung und Normalisierung, zur Institution. Sie ist diejenige institutionelle Organisationsform von Herrschaft, die dem strukturellen Gefüge dieser Länder tatsächlich entspricht. Die Folter als Institution ist hier das bevorzugte Mittel der Politiker (d. h. der Militärs) zur Kontrolle einer Situation, die einzig durch kontinuierliche Gewaltandrohung kontrollierbar bleibt.
An diesem Beispiel wird deutlich, daß Wirtschaftsstruktur und institutionelle Organisation der Macht auf den verschiedenen Entwicklungsstufen eng miteinander verknüpft sind. So ist es denn kein Zufall, daß mit der Industriellen Revolution die ersten Irrenhäuser im technischinstitutionellen Sinne entstehen und die »öffentliche Fürsorge« als soziale Großagentur ihren Aufstieg beginnt. Heute ist die Organisation der sozialen Kontrolle hochverfeinert und als solche nur schwer zu erkennen. Sie ist eingehüllt in wissenschaftliche Ideologien. Das moderne Irrenhaus ist Ausfluß einer medizinischen Ideologie, die »Geisteskrankheit« für unheilbar erklärt, und das moderne Gefängnis repräsentiert die Ideologie der Bestrafung. Die Wahnsinnigen, die Pinel von den in Ketten gelegten Verbrechern gesondert hatte, sind noch immer, wirklich und symbolisch, in Ketten gelegt, zwar in separaten Institutionen, aber im Namen der gleichen Prinzipien und Werturteile. Doch auch legal gebrauchte Gewalt ist Gewalt. Die rigorosesten Sanktionen treffen nach wie vor die Außenseiter, die die öffentliche Ordnung, den Produktionsrhythmus und dessen Effektivität in Zweifel ziehen. Paradoxerweise stellt sich im Namen von Effizienz und Ausbeutung die Dialektik von Herr und Knecht wieder her: Der Herr schützt den Knecht vor der Bedrohung durch den, der den ordentlichen Ablauf ...
Auszug aus dem Buch: Befriedungsverbrechen, über die Dienstbarkeit der Intellektuellen: https://befriedungsverbrecher.files.wordpress.com/2013/05/basaglia20et20al20-20befriedungsverbrechen.pdf
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