Freitag, 29. November 2024

Bäcker-Safari: Das große Politiker-Abenteuer in der Welt der tatsächlich Arbeitenden

 

Quelle: https://www.linkedin.com/posts/armand-zorn_diese-menschen-stehen-jede-nacht-um-drei-activity-7267090798444261376-xDSj?utm_source=share&utm_medium=member_desktop

George Orwell hätte seine helle Freude an diesem Social-Media-Post. Er, der in "Der Weg nach Wigan Pier" die selbsternannten Vertreter der Arbeiterklasse als "Fruchtsaftapostel, Buddhisten, Sandalenträger, Sexverückte, Naturheil-Pfuscher, Pazifisten und Feministen" entlarvte, würde heute eine noch buntere Sammlung vorfinden:

  • Instagram-Moralisten, die ihre "Solidarität" in perfekt gefilterten Bildern zur Schau stellen
  • Bio-Evangelist*innen, die vom Bio-Brötchen schwärmen, während die Bäcker kaum ihre Miete zahlen können
  • Workshop-Weltverbesserer, die lieber über Diversität referieren als über Mindestlöhne
  • Diversitäts-Prediger, die den "Migrationsanteil" in der Belegschaft feiern, statt über prekäre Arbeitsverhältnisse zu sprechen
  • Hashtag-Aktivisten, die ihre "Praxiserfahrungen" in wohlfeile Social-Media-Häppchen verwandeln
  • TED-Talk-Revolutionäre, die über "New Work" philosophieren, während andere um drei Uhr aufstehen müssen
  • Nachhaltigkeits-Influencer, die vom handwerklichen Können schwärmen, aber die Händeschwielen nie selbst spüren

Unser Bundestagsabgeordneter reiht sich nahtlos in diese Tradition ein. Er "verlässt seine Komfortzone" für ein forgfältig inszeniertes Tagespraktikum, als handle es sich um eine Expedition ins Unbekannte. Mit der Attitüde eines Naturforschers bestaunt er die "enormen Arbeitslasten" und die "perfekt aufeinander abgestimmten Abläufe" – als wäre er der erste, der entdeckt, dass Menschen auch nachts arbeiten müssen.

Besonders entlarvend ist seine herablassende Verwunderung darüber, dass "viele von uns" frische Brötchen als selbstverständlich hinnehmen. Dieses "wir" zeigt genau die Kluft auf, die er vorgibt überbrücken zu wollen. Er gehört eben zu jenen, die morgens in ihre frischen Brötchen beißen, während andere sie seit drei Uhr nachts backen mussten.

Die joviale Begeisterung über den "hohen Migrationsanteil" in der Belegschaft ist der Gipfel dieser Sozialromantik. Statt die wirtschaftlichen Zwänge zu hinterfragen, die Menschen in unterbezahlte Jobs drängen, wird daraus eine Geschichte über gelungene Integration gestrickt.

Was Orwell vor fast 100 Jahren beschrieb, findet heute seine perfekte Fortsetzung in den sozialen Medien: Eine privilegierte Schicht, die sich kurzfristig in die Arbeitswelt hinabbeugt, um daraus Content zu generieren, während die tatsächlichen Nöte der Arbeitenden – Schichtarbeit, körperliche Belastung, stagnierende Löhne – bestenfalls als pittoreske Kulisse dienen.

Das "Tagespraktikum" wird zur Safari in die Arbeiterwelt, komplett mit Selfies und wohlfeilen Erkenntnissen. Danach geht's zurück in die Komfortzone des Bundestags, während die echten Bäcker weiter um drei Uhr aufstehen müssen – nicht um ihre Komfortzone zu verlassen, sondern um zu überleben.

 

 



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