Gleich in der ersten Zeile seines Cicero-Artikels legt Jan Schoenmakers los: "Das neue Jahr beginnt gut für Bürgergeldempfänger: Um über 12 Prozent werden die Transferzahlungen erhöht". Was er verschweigt: Diese Erhöhung ist eine verfassungsrechtlich gebotene Anpassung an die Inflation - keine "Wohltat".
Quelle: https://www.cicero.de/wirtschaft/erhohung-des-burgergeldes-lohnt-sich-arbeit-nicht-mehr
Schauen wir uns an, wie dieser selbsternannte "Statistikexperte" systematisch Zahlen verdreht und Fakten verschleiert: Jan Schoenmakers liefert im Cicero ein Meisterwerk dieser Gattung ab. Sein Artikel "Lohnt sich Arbeit nicht mehr?" ist ein Paradebeispiel dafür, wie man mit akademischem Vokabular und scheinbar nüchterner Analyse pure Hetze gegen Arme betreibt. Schauen wir uns dieses Kunststück doch mal genauer an.
1. Der statistische Taschenspielertrick
Schoenmakers' erste Manipulation: Er skandalisiert die "12 Prozent Erhöhung für Bürgergeldempfänger", stellt sie als überzogen dar und vergleicht sie polemisch mit den Erhöhungen für Tarifbeschäftigte (5,6%) und Rentner (3,5%). Was er dabei bewusst verschweigt: Diese Erhöhung ist nicht nur verfassungsrechtlich geboten, sondern reicht nicht einmal aus, um die massiven Kaufkraftverluste der letzten Jahre auszugleichen.
Dies belegen eindrucksvoll zwei aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen: Das verfassungsrechtliche Kurzgutachten von Prof. Anne Lenze, die als renommierte Sozialrechtlerin an der Hochschule Darmstadt lehrt und als eine der führenden Expertinnen für Fragen des Existenzminimums gilt, sowie die Studie von Dr. Irene Becker, einer anerkannten empirischen Verteilungsforscherin, die im Auftrag des DGB die tatsächlichen Auswirkungen der Inflation auf Grundsicherungsempfänger untersucht hat. Die Analyse von Dr. Becker zeigt, dass der regelbedarfsrelevante Preisindex (rbr PI) allein zwischen Dezember 2020 und Dezember 2022 um 17,71% gestiegen ist. Die Teuerungsrate lag dabei im letzten Quartal 2022 bei erschreckenden 11,9%, 12,4% und 12,6%. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Grundsatzentscheidungen wiederholt klargestellt: Der Gesetzgeber muss bei Preissteigerungen zeitnah reagieren, um "zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen". Er darf bei existenzgefährdenden Unterdeckungen durch extreme Preissteigerungen nicht einfach auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten.
Noch dramatischer wird es beim Blick auf die Gesamtverluste: Laut Dr. Beckers Berechnungen beläuft sich das inflationsbedingte Bruttodefizit für das Jahr 2022 auf 575 Euro. Zusammen mit dem bereits 2021 aufgelaufenen Defizit von 168 Euro ergibt sich eine reale Einbuße beim Lebensstandard von 743 Euro. Selbst wenn man die Einmalzahlung von 100 Euro gegenrechnet, bleibt ein Nettodefizit von 475 Euro allein für 2022 - bei Aufstockern, die zusätzlich die Energiepreispauschale erhielten, immer noch 175 Euro.
Prof. Lenze kommt in ihrem verfassungsrechtlichen Gutachten zu alarmierenden Schlüssen: Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen verpflichtet, unvermittelt auftretende extreme Preissteigerungen zeitnah zu berücksichtigen - er darf nicht einfach auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfe warten. Eine Anpassung der Regelbedarfe von nur 0,76% zum 1.1.2022 führt laut Lenze "evident zu einem spürbaren Kaufkraftverlust von Beziehern von Grundsicherungsleistungen und zu einer Unterdeckung des menschenwürdigen Existenzminimums." Besonders kritisch sieht sie die niedrige Anpassungsrate im Zusammenhang mit der steigenden Inflation, die im August 2021 bereits bei 3,9% lag. Dies ist auch deshalb verfassungsrechtlich problematisch, weil der existenznotwendige Bedarf in der Bundesrepublik in den vergangenen 50 Jahren regelmäßig gestiegen, nicht gesunken ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wäre daher allenfalls ein vorsorgliches Überschreiten der Mindestwerte geboten - keinesfalls aber eine derart niedrige Anpassung unterhalb der Inflationsrate.
Die Realität zeigt sich auch in erschreckenden Zahlen zur konkreten Lebenssituation: 16,9% aller Bedarfsgemeinschaften müssen bereits jetzt einen Teil ihrer Wohnkosten aus dem Regelbedarf bestreiten, weil die tatsächlichen Kosten höher sind als die anerkannten. Bei Familien mit Kindern beträgt diese "Wohnkostenlücke" durchschnittlich 101 Euro - Geld, das dann für Lebensmittel, Kleidung oder Schulbedarf fehlt. Auch die vom Gesetzgeber unterstellte "Ansparkonzeption" erweist sich als realitätsfremd: Für eine Waschmaschine enthält der Regelbedarf monatlich gerade einmal 1,60 Euro als Ansparsumme. Das würde theoretisch eine Ansparzeit von 16 Jahren bedeuten.
Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 2014 festgestellt, dass die Regelbedarfe "an der untersten Grenze" dessen liegen, was verfassungsrechtlich geboten ist. Prof. Lenze weist in ihrem Gutachten darauf hin, dass der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums umso geringer wird, je weiter er seinen Spielraum in den zurückliegenden Jahren bereits ausgeübt hat. Eine weitere Kaufkraftminderung durch die aktuelle Preisentwicklung muss daher dringend abgewendet werden.
Schoenmakers' vermeintlich "überzogene" 12-Prozent-Erhöhung entpuppt sich damit als das, was sie ist: Eine längst überfällige und noch nicht einmal ausreichende Anpassung an die Realität. Seine Darstellung verschleiert bewusst, dass Bürgergeldempfänger in den vergangenen Jahren massive Realkaufkraftverluste hinnehmen mussten und das Bürgergeld verfassungsrechtlich das absolute Existenzminimum sichern muss. Seine statistische Trickserei dient einzig dem Ziel, Empfänger von Sozialleistungen als privilegierte Gruppe darzustellen – entgegen aller wissenschaftlichen Evidenz und verfassungsrechtlichen Vorgaben..
2. Die große Arbeitslosen-Lüge
Besonders dreist ist seine Behauptung mit den "72 Prozent arbeitsfähigen Bürgergeldempfängern":
- Er unterschlägt, dass viele bereits arbeiten (Aufstocker)
- Er verschweigt chronische Krankheiten und Betreuungspflichten
- Er ignoriert regionale Unterschiede und fehlende Arbeitsplätze
- Er ignoriert, dass 1,2 Millionen Kinder Empfänger von Sozialleistungen sind, die gar nicht arbeiten können.
Schoenmakers' Methode ist raffiniert: Er hüllt seinen Hass in das Gewand wissenschaftlicher Objektivität. "Grenznutzen", "Grenzkosten", "nüchterne Betrachtung" - klingt wahnsinnig seriös, nicht wahr? Aber unter dieser pseudo-akademischen Fassade lugt der alte "Sozialschmarotzer"-Diskurs hervor, nur eben in Gucci statt Lumpen.
Der Kunstgriff mit der 130.000-Euro-Familie
Besonders köstlich ist sein konstruiertes Beispiel einer Familie mit fünf Kindern und 130.000 Euro Jahresbrutto, die angeblich "nur 400 Euro mehr" als Bürgergeldempfänger hat. Schauen wir uns diese kreative Buchführung doch mal in der Realität an:
Familie mit 130.000€ Jahresbrutto:
- Reales Nettoeinkommen mit Steuerklasse 3:liegt bei 7.300€
- Kindergeld: 1.250€ (5 x 250€)
- Steuerliche Vorteile durch Kinderfreibeträge
- Gesamtverfügbares Einkommen: deutlich über 8.550€ monatlich
- Hinzu kommt, was die 3 Kinder in der Ausbildung verdienen - wird ja eigentlich auch zum Haushaltseinkommen hinzugerechnet.
Das sind 4990 € mehr in der Haushaltskasse als eine Bürgergeld-Familie mit fünf Kindern zur Verfügung hat. Ich schreibe es noch mal 4990 € mehr und nicht 400 €. Wenn hier jemand mit Zahlen Probleme hat, dann Herr Jan Schoenmakers
Selbst bei Steuerklasse 1 beträgt das Einkommen immer noch 6.350 € plus 1.250 € Kindergeld (5 × 250 €), was insgesamt 7.600 € ergibt. Das sind immer noch 4.220 € mehr als das Einkommen einer Bürgergeld-Familie mit fünf Kindern. Und nicht 400 €, wie Jan Schoenmakers in seiner libertären Art und Weise behauptet hat.
Dagegen die reale Bürgergeld-Familie mit 5 Kindern:
- Hauptbedarfsträger: 451€
- Partner: 451€
- 3 Kinder über 14: 1.260€ (3 x 420€)
- 2 Kinder unter 14: 696€ (2 x 348€)
- Warmmiete (Großstadt): ~1.800€
- Zusätzliche Bedarfe: ~100€ = Gesamtsumme: 4.810€
ABER: Das Kindergeld (1.250€) wird komplett angerechnet! = Effektive staatliche Unterstützung: 3.560€ monatlich
Sehen Sie den Unterschied, Herr Schoenmakers? Zwischen 8.550€+ und 3.560€ liegen nicht 'nur 400 Euro', sondern eine Differenz von 4.990€! Das ist keine 'geringe Differenz' - das ist ein himmelweiter Unterschied im Lebensstandard.
Zum Vergleich: Bürgergeldempfänger bekommen das Kindergeld komplett auf ihre Leistungen angerechnet. Eine subtile Information, die Herr Schoenmakers "vergisst" zu erwähnen. Ups!
Die Realität, die Schoenmakers verschweigt
Während unser libertärer Freund über "falsche Anreize" schwadroniert, sieht die Realität so aus:
- 20,4% der Kinder leben in relativer Armut
- 23% dieser Kinder sind auf die Tafel angewiesen
- Übergewicht tritt bei armen Kindern 3-5 mal häufiger auf
- Gleichzeitig herrscht massive Mangelernährung
Das "Double Burden"-Paradox
Besonders perfide: Während Schoenmakers suggeriert, Bürgergeldempfänger lebten in Saus und Braus, zwingen die niedrigen Regelsätze Familien zu einer Ernährung, die gleichzeitig zu Übergewicht UND Mangelernährung führt. Billige, energiereiche aber nährstoffarme Lebensmittel sind oft die einzige Option.
Die verheerenden Folgen
Die Langzeitfolgen dieser von Schoenmakers verharmlosten Armut sind dramatisch:
- Chronische Unterernährung führt zu irreversiblen Entwicklungsverzögerungen
- Sprachentwicklungsstörungen sind bei armen Kindern 15-mal häufiger
- Kognitive Einschränkungen beeinträchtigen die Bildungschancen dauerhaft
3. Der absurde "Grenznutzen"-Trick
Schoenmakers' Paradebeispiel für irreführende Statistik: Seine "Grenznutzen"-Rechnung.
Er behauptet: "Wenn ich 133 Stunden im Monat arbeite und damit 300 Euro mehr im Portemonnaie habe als mit Bürgergeld, liegt mein Grenznutzen pro Stunde bei 2,25 Euro."
Was er unterschlägt:
- Die gesetzlichen Freibeträge nach § 11b SGB II
- Progressive Anrechnungsregeln bei steigendem Einkommen
- Zusätzliche Förderungen für Arbeitsaufnahme
Seine Rechnung ist nicht nur falsch - sie ist bewusst irreführend.
4. Das manipulative Familienbeispiel
Apropos "Grenznutzen" - Schoenmakers' Lieblingsbegriff. Seine Behauptung eines "Grenznutzens von 2,25 Euro pro Arbeitsstunde" ist ein Meisterwerk kreativer Mathematik:
- Er ignoriert komplett die gesetzlichen Freibeträge nach § 11b SGB II
- Er unterschlägt die Zuverdienstmöglichkeiten
- Er "vergisst" die Progression bei steigendem Einkommen
Die bittere Wahrheit
Während Schoenmakers gegen Bürgergeldempfänger hetzt, verschweigt er geflissentlich:
- Deutschland hat die zweithöchste Abgabenlast weltweit
- 20% aller Beschäftigten arbeiten im Niedriglohnsektor
- Viele Vollzeitbeschäftigte können von ihrem Lohn nicht leben
Fazit: Die Entlarvung eines "intellektuellen" Hetzbeitrags
Jan Schoenmakers' Artikel ist keine Analyse. Er ist ein in akademische Sprache verpackter Angriff auf den Sozialstaat und die Würde von Menschen in Not. Er bedient sich aller Tricks aus dem Handbuch des gehobenen Populismus:
- Konstruierte Extrembeispiele
- Aus dem Kontext gerissene Zahlen
- Moralische Überhöhung der eigenen Position
- Verschleierung realer sozialer Probleme
Das ist kein Journalismus. Das ist Klassenkampf von oben - nur eben im Gewand eines "Qualitätsmediums".
Wissen Sie, was wirklich obszön ist, Herr Schoenmakers? Nicht das Bürgergeld. Sondern die Art und Weise, wie Sie mit akademischer Sprache und manipulierten Zahlen Menschen gegeneinander aufhetzen, während Sie die wahren strukturellen Probleme unserer Gesellschaft verschleiern.
Aber hey, immerhin haben Sie uns gezeigt, dass man Sozialchauvinismus auch mit Stil betreiben kann. Gratulation zu dieser Leistung!
Dieser Artikel basiert auf offiziellen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit, Studien zur Kinderarmut und den gesetzlichen Grundlagen des SGB II. Alle Zahlen sind überprüfbar - im Gegensatz zu den kreativen Rechenbeispielen von Herrn Schoenmakers.
Nachtrag: "Aber was ist mit Azubis im Haushalt?"
Bei einer Familie dieser Größe könnten auch Kinder über 18 dabei sein, die bereits in Ausbildung sind - bei drei Kindern sogar recht wahrscheinlich. Schauen wir uns auch diese Situation genau an:
Bei der 130.000€-Familie: Monatliche Einnahmen:
- 7.300€ Netto Hauptverdiener
- 3 × 800€ Azubi-Gehälter = 2.400€
- 1.250€ Kindergeld = 10.950€ gesamt
Davon gehen ab:
- 2.400€ für die Azubis selbst
- 1.800€ Miete = 6.750€ bleiben der Familie zum Leben
Bei der Bürgergeld-Familie: Monatliche Einnahmen:
- 3.154€ Bürgergeld (bereits nach Abzug von Kindergeld und Azubi-Anrechnung)
- 3 × 800€ Azubi-Gehälter = 2.400€
- 1.250€ Kindergeld = 6.804€ gesamt
Davon gehen ab:
- 2.046€ für die Azubis
- 1.800€ Miete = 2.958€ bleiben der Familie zum Leben
Der Unterschied wird damit noch deutlicher: Die arbeitende Familie hat mit 6.750€ nach Zahlung der Miete im Vergleich zur Bürgergeld-Familie (2.958€) insgesamt 3.792€ mehr zum Leben. Sie haben das 2,3-fache (235%) Geld zur Verfügung.
Zusätzlich sind die Azubi-Kinder des Gutverdieners auch jeweils noch einmal um 118€ besser gestellt als die im Bürgergeld-Haushalt.
Also auch hier, Herr Schoenmakers: Von einer "geringen Differenz" von 400€ kann keine Rede sein - der Unterschied im Lebensstandard ist enorm.
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