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Freitag, 28. Februar 2025

"9 Millionen aus der Armut befreit"? Was die Zahlen wirklich über Mileis Politik sagen

 

Am 26. September 2024 machte auf LinkedIn eine bemerkenswerte Behauptung die Runde: 

 

Diese Aussagen von Olivier Kessler, Direktor des Liberalen Instituts, und das darin enthaltene Video von Präsident Milei erschienen ausgerechnet am selben Tag, an dem das argentinische Statistikamt INDEC seinen offiziellen Bericht zur Armutsentwicklung im ersten Halbjahr 2024 veröffentlichte. Die Zahlen zeichnen ein völlig anderes Bild.

Die erschreckende Realität in Zahlen

Die offiziellen INDEC-Statistiken zeigen:

  • 52,9% der Bevölkerung leben in Armut - ein Anstieg von 11,2 Prozentpunkten gegenüber dem Vorhalbjahr
  • 18,1% leben in extremer Armut - ein Anstieg von 6,2 Prozentpunkten
  • 42,5% der Haushalte sind von Armut betroffen - ein Anstieg von 10,7 Prozentpunkten
  • 13,6% der Haushalte leben in extremer Armut - ein Anstieg von 4,9 Prozentpunkten

Besonders dramatisch ist die Situation bei Kindern und Jugendlichen:

  • 66,1% der unter 14-Jährigen leben in armen Haushalten
  • Die Altersgruppe 15-29 Jahre ist zu 60,7% von Armut betroffen
  • Die Altersgruppe 30-64 Jahre zu 48,6%
  • Selbst bei den über 65-Jährigen liegt die Quote bei 29,7%

Von welcher Befreiung sprechen wir?

Angesichts dieser offiziellen Zahlen erscheint die Behauptung von 9 Millionen "befreiten" Menschen geradezu absurd. Im Gegenteil: Die Daten zeigen eine drastische Verschlechterung der sozialen Lage. Der Grund liegt auf der Hand:

  • Die Grundnahrungsmittelkosten (CBA) stiegen um 115,3%
  • Die Gesamtlebenshaltungskosten (CBT) erhöhten sich um 119,3%
  • Die Einkommen stiegen dagegen nur um 87,8%

Diese massive Schere zwischen Einkommensentwicklung und Preissteigerungen erklärt den dramatischen Anstieg der Armut.

Die historischen Hintergründe

Wie ich in meinem Artikel "Der Mythos vom sozialistischen Scheitern: Argentiniens 200-jähriger Kampf gegen neokoloniale Ausbeutung" [LINK] ausführlich dargelegt habe, liegt die Wurzel der argentinischen Krise viel tiefer. Der Artikel zeigt auf, wie internationale Finanzinstitutionen und lokale Eliten das Land seit über 200 Jahren systematisch ausbeuten - von den ersten britischen Krediten in den 1820er Jahren bis zu den aktuellen IWF-Programmen.

[Der Mythos vom sozialistischen Scheitern: Argentiniens 200-jähriger Kampf gegen neokoloniale Ausbeutung]

Die Realität hinter den Finanzmarkt-Jubelmeldungen

In meinem zweiten Artikel "Der Mythos vom durchsickernden Wohlstand: Von Argentinien bis Deutschland" [LINK] habe ich bereits aufgezeigt, wie die Diskrepanz zwischen Finanzmarktindikatoren und sozialer Realität systematisch verschleiert wird. Während Börsenindizes und Länderrisiko-Ratings gefeiert werden, verschärft sich die soziale Krise dramatisch.

[Der Mythos vom durchsickernden Wohlstand: Von Argentinien bis Deutschland]

Die Inszenierung der "Erfolgsgeschichte"

Am 26. September 2024, dem gleichen Tag, an dem der INDEC seine alarmierenden Armutszahlen veröffentlichte, wurde Javier Milei vom Liberalen Institut mit dem Wilhelm Röpke-Preis ausgezeichnet. Seine Dankesrede war ein Paradebeispiel für die Konstruktion alternativer Realitäten:

"Als direkte Folge der Bekämpfung der Inflation konnten wir die Armutsrate von 54 Prozent im ersten Quartal 2024 auf 38 Prozent im dritten Quartal senken", verkündete Milei unter frenetischem Applaus. "Wir haben also über 9 Millionen Argentinier aus der Armut befreit."

Die Zahlen des INDEC zeichnen ein völlig anderes Bild: 52,9% Armutsquote, ein Anstieg um 11,2 Prozentpunkte. Die Diskrepanz könnte größer nicht sein. Doch im Saal des Liberalen Instituts wurde jede seiner Behauptungen mit Standing Ovations gefeiert.

Besonders bemerkenswert sind weitere Behauptungen aus Mileis Rede:

"Nach der Durchführung des grössten Sparprogramms in der Geschichte der Menschheit haben wir heute einen nachhaltigen fiskalischen Überschuss erreicht" - Die Realität: Die massiven Kürzungen im Sozialbereich haben die Armut dramatisch verschärft, wie die INDEC-Zahlen belegen.

"Das Wirtschaftswachstum des letzten Quartals 2024 auf Jahresbasis beträgt 17%" - Eine geschönte Zahl, die die dramatischen sozialen Kosten verschweigt. Die INDEC-Daten zeigen: Die Grundnahrungsmittelkosten stiegen um 115,3%, die Gesamtlebenshaltungskosten um 119,3%, während die Einkommen nur um 87,8% zulegten.

"Wir haben noch 3200 weitere Reformen vor uns. Argentinien wird zum freiesten Land auf der Welt" - Eine zynische Aussage angesichts der Tatsache, dass 66,1% der Kinder unter 14 Jahren in Armut leben.

Das Publikum im Saal reagierte auf diese Aussagen mit "frenetischem Applaus" und "Standing Ovations". Eine surreale Szene: Während Milei das "argentinische Wirtschaftswunder" beschwor, veröffentlichte das INDEC zeitgleich die verheerenden Armutszahlen.

Die Verherrlichung der "Kettensägen-Politik"

Besonders besorgniserregend ist, wie Milei seine radikalen Kürzungen als Erfolg feiert:

"Bis heute haben wir bereits mehr als 900 Regulierungen aufgehoben. Durchschnittlich mehr als drei pro Tag" - Was er als "Befreiung" verkauft, bedeutet in der Realität den Abbau grundlegender sozialer Sicherungen und Arbeitnehmerrechte.

"Wir arbeiten an einer strukturellen Steuerreform, die die Anzahl der nationalen Steuern um 90 % reduzieren soll" – ein Programm, das primär Steuererleichterungen für Wohlhabende vorsieht. Diese Reform würde die Staatseinnahmen drastisch verringern und die Finanzierung des Sozialstaats weiter destabilisieren

Besonders zynisch erscheint seine Metapher vom "Keim, der Wohlstand schafft" angesichts der INDEC-Zahlen:

  • 18,1% der Bevölkerung leben in extremer Armut
  • Die Altersgruppe 15-29 Jahre ist zu 60,7% von Armut betroffen
  • 48,6% der 30-64-Jährigen leben unter der Armutsgrenze

Die gefährliche Wirtschaftsideologie

Mileis Rede offenbart eine radikale wirtschaftsliberale Ideologie:

Gleichzeitig arbeiten wir daran, die Zentralbank zu abschaffen, so wie wir es versprochen haben" – Ein gefährliches Experiment, das die wirtschaftliche Stabilität des Landes gefährden könnte. Javier Milei plant, den argentinischen Peso durch den US-Dollar zu ersetzen (Dollarisierung). Doch dieser Schritt birgt erhebliche Risiken: Argentinien würde seine monetäre Souveränität verlieren und wäre gezwungen, seine Wirtschaftspolitik an die USA auszurichten. In Krisenzeiten könnte das Land keine unabhängigen Maßnahmen ergreifen, um Rezessionen oder Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Zudem droht eine Verschärfung der Schuldenkrise, da viele Schulden in Pesos denominiert sind. Soziale Ungleichheit könnte weiter wachsen, da der Staat weniger Spielraum für soziale Programme hätte. Kurzfristig mag die Dollarisierung Stabilität versprechen, doch ohne strukturelle Reformen bleibt sie ein riskantes Experiment.

"In 50 Jahren könnte Argentinien wirtschaftlich auf einer ähnlichen wirtschaftlichen Ebene stehen wie die USA" - Eine utopische Vision, während aktuell mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt.

Das Erschreckende: Jede dieser radikalen Ankündigungen wurde vom Publikum des Liberalen Instituts mit Begeisterung aufgenommen. Die Standing Ovations für eine Politik, die nachweislich die Armut verschärft, zeigen die komplette Entkopplung dieser Elite von der sozialen Realität.

Die Instrumentalisierung Wilhelm Röpkes

Besonders problematisch ist Mileis selektive und verzerrende Vereinnahmung Wilhelm Röpkes:

"Es ist mir eine Ehre [...] mit dem Wilhelm Röpke-Preis ausgezeichnet zu werden – zu Ehren eines der grössten Vertreter des Liberalismus in der jüngeren Geschichte."

Was Milei verschweigt: Röpke war ein Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft, die einen starken, ordnenden Staat vorsah - das genaue Gegenteil von Mileis "Kettensägen-Politik". Röpke warnte ausdrücklich vor den sozialen Verwerfungen eines ungezügelten Manchesterkapitalismus, wie ihn Milei propagiert.

Die Dämonisierung aller Kritiker

Besonders beunruhigend ist Mileis aggressive Rhetorik gegen Andersdenkende:

"Lassen Sie sich nicht von den Tyrannen des Kollektivismus einschüchtern, die jede abweichende Meinung zu zerstören versuchen" - Eine klassische Strategie der Radikalisierung: Wer nicht seiner extremen Marktideologie folgt, wird als "Tyrann" diffamiert.

"Ja, die Kaste hat Angst. Denn die werden bald arbeitslos. Wir brauchen mehr Arbeitslose Politiker." - Diese populistische Rhetorik verschleiert, dass seine Politik vor allem die Ärmsten trifft, nicht die "Kaste".

Die pseudo-religiöse Inszenierung

Die Rede gipfelt in einer quasi-religiösen Verklärung des Marktes:

"Gott segne Sie, mögen uns die Kräfte des Himmels beistehen. Es lebe die Freiheit, Himmel nochmal!"

Diese Vermischung von Marktradikalismus und religiöser Rhetorik, begleitet von "Standing Ovations" und "Libertad-Rufen", erinnert mehr an eine Erweckungsveranstaltung als an eine seriöse wirtschaftspolitische Diskussion.

Fazit: Die gefährliche Realitätsverzerrung

Der Kontrast zwischen Mileis Rede und den am gleichen Tag veröffentlichten INDEC-Zahlen könnte nicht größer sein:

  • Er spricht von "Befreiung", während die Armutsquote auf 52,9% steigt
  • Er feiert "Wachstum", während die Reallöhne sinken
  • Er beschwört "Freiheit", während Millionen in die Armut abrutschen

Die begeisterte Aufnahme dieser Rede im Liberalen Institut zeigt die gefährliche Realitätsferne einer Elite, die wirtschaftsradikale Ideologie über empirische Fakten und menschliches Leid stellt.

Der größere Kontext: Der gefährliche Siegeszug des Libertarismus

In meinem ausführlichen Artikel "Der gefährliche Siegeszug des Libertarismus: Von Argentinien bis Deutschland - Eine Systemanalyse" zeige ich auf, wie Mileis Politik in eine beunruhigende globale Entwicklung eingebettet ist. Der Artikel analysiert:

  • Die systematische 200-jährige Ausbeutung Argentiniens
  • Mileis "Schocktherapie" und ihre verheerenden sozialen Folgen im Detail
  • Seine gefährliche religiöse Selbstinszenierung
  • Die beunruhigende Resonanz in Deutschland, wo Akteure wie Stefan Homburg einen "deutschen Milei" fordern
  • Die Rolle der alternativen Medien als unkritische Echokammer libertärer Ideologie

Besonders alarmierend ist, wie große Teile der deutschen Medienlandschaft Mileis radikale Politik trotz ihrer offensichtlich katastrophalen Folgen als Vorbild feiern. [Der gefährliche Siegeszug des Libertarismus: Von Argentinien bis Deutschland - Eine Systemanalyse]

Die ideologische Verblendung

Kesslers Post ist ein Paradebeispiel für ideologische Verblendung. Während er von "sozialistischen Lügengebilden" spricht, ignoriert er die harten Fakten der offiziellen Statistik. Sein Mantra "Freiheit schafft überall, wo man sie zulässt Wohlstand" wird durch die Realität in Argentinien eindeutig widerlegt.

Die seltsame Welt der LinkedIn-Diskussionen

Was besonders auffällt: Unter Kesslers Post finden sich zahlreiche zustimmende Kommentare von selbsternannten Experten - Professoren, Rechtsanwälte, Fondsmanager und Ökonomen. Sie alle feiern Mileis "Erfolg", während sie die dramatische soziale Realität komplett ausblenden. Diese Echo-Kammer der privilegierten Elite zeigt exemplarisch, wie weit sich gewisse Kreise von der Realität der Menschen entfernt haben.

Fazit: Die Entkopplung von Realität und Ideologie

Der 26. September 2024 markiert einen beunruhigenden Moment in der argentinischen Geschichte: Während Javier Milei im Saal des Liberalen Instituts mit Standing Ovations gefeiert wurde, veröffentlichte das INDEC Daten, die eine verheerende soziale Krise dokumentieren. Die Diskrepanz zwischen den offiziellen Zahlen und Mileis triumphaler Selbstdarstellung könnte kaum größer sein. Seine Politik der „Kettensägen“ mag auf dem Papier wie ein radikales Programm zur Befreiung der Wirtschaft erscheinen, doch die Realität zeigt, dass sie vor allem die Armen trifft und die soziale Ungleichheit verschärft.

Mileis Pläne – von der Abschaffung der Zentralbank bis zur Dollarisierung – sind riskante Experimente, die Argentinien möglicherweise noch tiefer in die Krise stürzen könnten. Die fehlende Berücksichtigung der historischen und strukturellen Ursachen der argentinischen Misere sowie die Ignoranz gegenüber den sozialen Kosten seiner Reformen machen seine Politik zu einem gefährlichen Unterfangen.

Am Ende bleibt die Frage: Wem dient diese Politik? Den Millionen Armen, deren Lage sich dramatisch verschlechtert, oder einer kleinen Elite, die in ihrer privilegierten Blase die Realität ignoriert? Die Antwort scheint offensichtlich – und alarmierend. Anstatt echte Lösungen für die tief verwurzelten Probleme des Landes anzubieten, riskiert Milei, Argentinien in eine neue Phase der Instabilität und Ungleichheit zu führen. Diese Entwicklung sollte nicht nur die Argentinier, sondern auch die internationale Gemeinschaft wachsam machen – denn die Konsequenzen einer solchen Politik könnten weit über die Grenzen des Landes hinausreichen.


Dieser Artikel basiert auf den offiziellen Daten des argentinischen Statistikamts INDEC für das erste Halbjahr 2024, veröffentlicht am 26. September 2024.

Quelle: https://drive.google.com/file/d/1ZeaJOKID97GfM5RI8btZKyEskcdGX8J8/view?usp=sharing


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