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Samstag, 25. Januar 2025

Die selektive Geschichtsmoral - Eine kritische Betrachtung

 

Kürzlich kritisierte ein selbsternannter Philosoph und Wirtschaftsjurist einen Beitrag über Führungsverhalten und Gruppendynamik. Der Beitrag hatte mithilfe der Wolf-Schaf-Metapher verschiedene Aspekte von Gruppenverhalten analysiert: Wie Menschen manchmal blind folgen und wann sie Führung kritisch hinterfragen, wie echte Führungsstärke sich von reiner Machtausübung unterscheidet, und wie wichtig eigenständiges Denken in Gruppen ist.

Die Antwort des Kritikers? Ein Goebbels-Zitat von 1932: "Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir!"

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Diese Art der Argumentation ist symptomatisch für ein bemerkenswertes Phänomen in deutschen Diskussionen: Sobald bestimmte Metaphern, Begriffe oder Vergleiche auftauchen, wird reflexartig die historische Keule geschwungen - aber interessanterweise nur dann, wenn es der eigenen Argumentation dient.

Diese selektive Geschichtsmoral wird besonders deutlich, wenn wir den Blick weiten: Wo bleibt der historische Verweis, wenn wir über wirtschaftliche Ausbeutung sprechen? Der britische Kolonialismus forderte allein in Indien zwischen 1880 und 1920 etwa 165 Millionen Menschenleben - mehr als beide Weltkriege zusammen. Das britische Empire saugte dabei nach Schätzungen der Ökonomin Utsa Patnaik etwa 45 Billionen US-Dollar aus dem indischen Subkontinent ab. Diese gigantische Summe, abgezweigt zwischen 1765 und 1938, legte den Grundstein für die westliche Industrialisierung. Die Lebenserwartung in Indien sank unter britischer Herrschaft auf erschreckende 21,9 Jahre.

Oder nehmen wir den Kongo unter der Herrschaft des belgischen Königs Leopold II.: Zwischen 1885 und 1908 wurden dort schätzungsweise 10 bis 15 Millionen Menschen Opfer eines der brutalsten Kolonialregime der Geschichte. Während Leopold II. sich in Europa als Philanthrop inszenierte, ließ er im Kongo ein System der Zwangsarbeit errichten, das durch unvorstellbare Grausamkeiten gekennzeichnet war. Menschen wurden verstümmelt, gefoltert und ermordet, wenn sie die geforderten Quoten an Kautschuk nicht erfüllten. Bis heute profitiert das belgische Königshaus von diesem blutigen Erbe - aber wo sind hier die historischen Verweise?

Besonders bezeichnend ist die Rolle Winston Churchills, der heute als großer Demokrat gefeiert wird. In den frühen 1930er Jahren bewunderte er Hitler und Mussolini. Während unter seiner Regierung 1943 drei Millionen Inder in Bengalen verhungerten, weil Großbritannien Lebensmittel exportierte und Getreideeinfuhren verbot, äußerte er sich mit erschreckender Menschenverachtung: "Ich hasse Inder. Sie sind ein garstiges Volk mit einer garstigen Religion."

Wenn es um Völkerrecht geht, wird selten an die systematische Ausrottung der indigenen Völker Amerikas erinnert. Die Verbrechen an den Ureinwohnern durch europäische Siedler führten zu einem der größten Genozide der Menschheitsgeschichte. Bei Diskussionen über politische Systeme werden die Millionen Opfer unter Mao (geschätzte 45 Millionen während des "Großen Sprungs nach vorn"), Stalin (etwa 20 Millionen) oder Pol Pot (etwa 2 Millionen, ein Viertel der kambodschanischen Bevölkerung) erstaunlich selten erwähnt.

Besonders bemerkenswert ist auch, dass seit dem Zweiten Weltkrieg schätzungsweise weitere 30 Millionen Menschen in verschiedenen Konflikten und Kriegen starben - ausgerechnet im Namen des Kampfes gegen die "Völkermörder" und "für die Menschenrechte". Von Vietnam über Korea bis zu den Kriegen in Irak und Afghanistan - stets wurde im Namen der "Freiheit" gekämpft und gestorben. Diese Opfer finden in der selektiven historischen Betrachtung kaum Erwähnung.

Nehmen wir noch heute geltende Strukturen: Das Einkommensteuergesetz, große Teile des Sozialversicherungssystems, das Bundesautobahnnetz, wesentliche Elemente des Arbeitsrechts, das Beamtenrecht, das Kindergeld, der Reichsadler als Bundesadler - all diese und viele weitere Strukturen und Symbole werden bis heute pragmatisch genutzt oder nur kosmetisch verändert, ohne jede historische Reflexion. Der Volkswagenkonzern, entstanden als "Kraft durch Freude"-Projekt, ist heute ein Weltkonzern - niemand stört sich daran. Der Reichsarbeitsdienst wurde zur Bundesanstalt für Arbeit, heute Bundesagentur - kein Problem. Aber sobald es argumentativ nützlich erscheint, wird die historische Dimension plötzlich mit größter moralischer Empörung bemüht.

Diese Inkonsequenz wirft Fragen auf: Geht es wirklich um historisches Bewusstsein? Oder ist es nicht vielmehr ein rhetorisches Instrument, das gezielt eingesetzt wird, um unliebsame Argumente zu diskreditieren und sachliche Diskussionen im Keim zu ersticken? Heute schaffen "Marktgesetze" und wirtschaftliche Dominanz ähnliche Abhängigkeiten wie früher militärische Macht - aber diese modernen Formen der Unterwerfung werden selten hinterfragt.

In diesem Kontext ist die Analyse des italienischen Philosophen Diego Fusaro erhellend. Er weist darauf hin, dass die obsessive Fokussierung auf bestimmte historische Ereignisse oft als Ablenkung von gegenwärtigen Formen der Gewalt und Unterdrückung dient. Während wir bestimmte historische Formen der Gewalt ritualisiert verurteilen, übersehen wir möglicherweise aktuelle, wirtschaftlich bedingte Formen der Dominanz.

Besonders bedenkenswert erscheint in diesem Zusammenhang Adornos Warnung von 1959: Er fürchte nicht die Wiederkehr des Faschismus als Schlägerbande, sondern seine Wiederkehr als Demokratie. Dies mahnt uns, über oberflächliche historische Vergleiche hinauszudenken und aktuelle Entwicklungen kritischer zu hinterfragen.


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