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Dienstag, 29. April 2025

Digitale Kolonisierung: Wie Silicon Valley unsere Sprache enteignet hat


Sie dringen unaufhaltsam vor, tarnen sich als notwendige Innovationen und erobern Satz für Satz unser Denken: Meme, Like, Content, Feature, Update, Dashboard, Onboarding, User Experience. Silicon Valley hat längst keinen Respekt mehr vor Landesgrenzen – die neue imperiale Macht kolonisiert direkt unser Bewusstsein. Und wir? Wir bejubeln unsere eigene Unterwerfung, während wir im digitalen Hamsterrad nach dem nächsten Dopamin-Kick jagen.

Die neue Sprachdiktatur

Das Silicon Valley hat keine Panzer geschickt. Es brauchte nur Algorithmen, um uns zu erobern. Mit jedem englischen Technologiebegriff, den wir unübersetzt in unseren Wortschatz aufnehmen, unterschreiben wir stillschweigend den Kapitulationsvertrag unserer sprachlichen Souveränität.

Früher war „Content" einfach ein „Inhalt". Ein „Feature" eine schlichte „Funktion", ein „Tool" ein „Werkzeug". Wir hatten keine „Updates", sondern „Aktualisierungen". Keine „Developer", sondern „Entwickler".

Doch die digitale Sprachkolonisierung greift immer tiefer: Wer noch von „Besprechungen" spricht, statt von „Meetings", wirkt hoffnungslos anachronistisch. Wer seine Ideen als „Einfälle" bezeichnet statt als „Input", gilt als kommunikationsunfähig. Und wer sich unterfängt, von „Zusammenarbeit" zu sprechen, anstatt von „Collaboration", wird bestenfalls mitleidig belächelt.

Am absurdesten zeigt sich dieser Imperialismus bei Berufsbezeichnungen. Niemand ist mehr einfach "Sachbearbeiter" – jetzt sind alle "Account Manager", "Operations Specialists" oder "Customer Success Heroes". Aus dem "Personalchef" wurde der "Head of Human Resources", aus der "Sekretärin" die "Office Management Assistentin". Der "Hausmeister"? Jetzt "Facility Manager". Selbst der "Pförtner" mutierte zum "Security Service Professional".

In Stellenanzeigen wimmelt es von "Junior/Senior Performance Marketing Managern", "Lead Experience Designern" und "Chief Evangelists". Bombastische Titel, die mehr verschleiern als erklären – die wahre Inflation findet nicht bei den Gehältern statt, sondern bei den Berufsbezeichnungen. Titelschwindel als Ersatz für echte Wertschätzung – der sprachliche Nebelvorhang, hinter dem sich oft prekäre Arbeitsverhältnisse verbergen.

Das Perverse: Die Ausgeschlossenen sind nicht die hippen Digital Natives, sondern Millionen von Menschen, die nie die Chance hatten, in den Silicon-Valley-Kult eingeweiht zu werden. Senioren, Menschen ohne Zugang zu teurer Technik, Arbeitende mit wenig Zeit für ständige digitale "Weiterbildung" – sie alle werden systematisch aus dem vermeintlich "demokratischen" digitalen Diskurs verbannt.

Der Neusprech der Algorithmen

Orwell warnte vor staatlicher Sprachkontrolle – wir erleben die privatwirtschaftliche Variante. Jedes Quartal spült die Tech-Industrie neue Begriffe in unseren Sprachgebrauch:

  • Wir "scrollen" statt zu blättern
  • Wir "swipen" statt zu wischen
  • Wir "liken" statt etwas zu mögen
  • Wir "sharen" statt zu teilen
  • Wir "followen" statt zu folgen
  • Wir haben "Skills" statt Fähigkeiten
  • Wir sind im "Homeoffice" statt im Heimbüro
  • Wir machen "Remote Work" statt Fernarbeit
  • Wir haben "Calls" statt Gespräche oder Anrufe
  • Wir sagen "Sorry" statt Entschuldigung

Selbst unsere intimsten Lebensbereiche bleiben nicht verschont:

  • Wir suchen nicht mehr nach Partnern, wir "matchen" auf Dating-Apps
  • Wir unterhalten uns nicht mehr, wir "chatten"
  • Wir treffen uns nicht zum Kaffee, sondern "networken"
  • Wir haben keine Hobbys mehr, sondern "Side Projects"
  • Wir arbeiten nicht mehr an uns selbst, wir betreiben "Self-Optimization"
  • Wir trennen nicht mehr Beruf und Privatleben, wir streben nach "Work-Life-Balance"
  • Wir haben keinen Feierabend mehr, sondern "Quality Time"
  • Wir ziehen nicht mehr um, wir "relocaten"
  • Unsere Kinder besuchen keinen Kindergarten, sondern die "Daycare"
  • Im Supermarkt kaufen wir kein Gemüse mehr, sondern "Organic Superfoods"
  • Wir gehen nicht mehr mit Freunden aus, wir haben ein "Social Life"
  • Wir entspannen nicht mehr, wir machen "Wellness" und "Digital Detox"

Unsere Städte verwandeln sich in Sprachghettos des Silicon Valley:

  • Aus dem Café wird der "Co-Working Space"
  • Aus der Wohngemeinschaft das "Co-Living Concept"
  • Aus dem Stadtteil das "Urban Quarter"
  • Aus dem Fahrradverleih das "Bike-Sharing"
  • Aus dem Nahverkehr die "Urban Mobility Solution"

Und mittendrin: dieses unsägliche Wort Meme.

Die sprachliche Enteignung am Beispiel "Meme"

Der britische Biologe Richard Dawkins prägte „Meme" als Begriff für kulturelle Gene. Heute bezeichnen wir damit digitale Bildwitze, die massenhaft geteilt werden. Aber warum eigentlich? Was spricht gegen:

  • Bildwitz
  • Spottgrafik
  • Netzspott
  • Kult-Bild
  • Viralscherz

Doch der wahre Skandal liegt tiefer. Diese begriffliche Kolonialisierung ist kein Zufall. Sie ist Teil einer systematischen Entfremdung, die uns wirtschaftlich ausbeutbar macht. Die Tech-Giganten schaffen eine Parallelsprache, deren Code nur Eingeweihte beherrschen – während der Rest der Bevölkerung zu digitalen Analphabeten degradiert wird.

Der verschwiegene Klassenkampf

Diese Sprachenteignung ist nichts anderes als Klassenkampf von oben. Die neuen digitalen Eliten erzeugen eine künstliche Kluft zwischen denen, die "drinnen" sind, und jenen, die "draußen" bleiben. Ein Bachelor-Abschluss reicht nicht mehr – man braucht einen "Bachelor of Science in Business Administration". Die "Abteilungsleiterin" hat ausgedient – nur der "Chief Executive Officer" zählt noch etwas.

In Stellenanzeigen wird nicht mehr nach dem "Experten" gesucht, sondern nach dem "Solution Architect", nicht nach dem "Verkäufer", sondern nach dem "Sales Development Representative". Selbst in mittelständischen Unternehmen tummeln sich plötzlich "Vice Presidents", "Executive Consultants" und "Innovation Evangelists" – Titel, die niemand versteht, aber alle beeindrucken sollen. Eine Nebelwand aus Wichtigtuerei, hinter der sich oft ganz gewöhnliche, unterbezahlte Bürojobs verbergen.

Wenn die 78-jährige Rentnerin nicht weiß, was ein "Browser-Cache" ist oder wozu man "Cookies" akzeptieren soll, ist das kein technisches Problem – es ist exakt so gewollt. Denn wer die Sprache nicht beherrscht, kann keine Forderungen stellen. Wer die Begriffe nicht kennt, kann keine Rechte einfordern.

Vom Bürger zum "User"

Der finale Triumph dieser digitalen Sprachkolonisierung: Wir sind keine Bürger mehr, keine Menschen – sondern "User". Nutzvieh für die Datenwirtschaft. Und wir tragen dieses Brandzeichen mit Stolz, während wir unsere "Customer Journey" durch die "Sales Funnel" antreten, begeistert vom nächsten "Game Changer" oder "Disruptor".

Die Perversion erreicht ihren Höhepunkt in der Arbeitswelt: Wir sind nicht mehr überarbeitet, wir haben ein "Burnout". Wir werden nicht mehr ausgebeutet, sondern genießen "New Work". Wir haben keine Überstunden mehr, sondern "Flexible Working Hours". Das Hamsterrad trägt jetzt den Titel "Performance Culture". Selbst die verzweifelte Suche nach Erholung vom digitalen Dauerstress bekam einen englischen Namen: "Work-Life-Balance" – als ob es ein Luxusproblem wäre und nicht ein grundlegendes Menschenrecht.

Selbst unsere Emotionen werden uns Silicon-Valley-konform diktiert. Wir sind nicht mehr traurig, wütend oder glücklich – wir benutzen Emojis. Unsere Gefühle müssen kategorisierbar sein für die Algorithmen. Komplexe Empfindungen werden auf simplifizierte Piktogramme reduziert, auf "Reactions", die sich problemlos in Datenbanken speichern lassen.

Die Invasion verschont auch unsere Kinder nicht. Sie wachsen mit "Learning Apps" statt Lehrbüchern auf, sie haben "Screentime" statt Spielzeit, ihre Freundschaften werden von "Parental Control Software" überwacht. Sie lernen nicht mehr Deutsch, sondern "Programming Languages". Sie spielen nicht mehr im Sandkasten, sondern in "Virtual Worlds" und ihre Eltern dokumentieren jeden Moment auf "Parenting Blogs" und in "Family Vlogs".

Die Ironie: Selbst dieser Text, der die sprachliche Kolonisierung anprangert, kommt ohne die Kolonialsprache nicht aus. So tief sitzt bereits die kulturelle Abhängigkeit.

Aufstand der deutschen Zunge

Sprache ist keine Einbahnstraße. Wir haben jahrhundertelang Fremdwörter eingedeutscht, angepasst, ersetzt. Woher kommt plötzlich diese servile Haltung gegenüber dem Silicon-Valley-Esperanto?

Der Widerstand beginnt mit der bewussten Entscheidung für die eigene Sprache. Mit der Weigerung, jeden technischen Anglizismus unreflektiert zu übernehmen. Mit dem Mut, auch mal "altmodisch" zu klingen.

Denn wer seine Sprache aufgibt, gibt sein Denken auf. Wer sein Denken aufgibt, gibt sein Urteil auf. Wer sein Urteil aufgibt, wird vom Bürger zum Konsumenten. Und schließlich: vom Konsumenten zum Produkt.

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