Die aktuelle Popularität libertärer Wirtschaftsideen offenbart ein durchsichtiges, aber gefährliches Täuschungsmanöver. Ausgerechnet jene Akteure, die jahrzehntelang den Staat für ihre Interessen instrumentalisiert haben, propagieren nun seine weitgehende Abschaffung. Besonders perfide: Es sind exakt dieselben Kreise, die durch Lobbyarbeit die Gesetzgebung bestimmt, staatliche Strukturen für ihre Zwecke genutzt und in Krisen Rettungsmilliarden kassiert haben. Und genau diese Akteure wollen jetzt den Staat weitgehend abschaffen? Das käme einer Machtübernahme durch die bisherigen Profiteure gleich - der Bock würde zum Gärtner gemacht.
Jahrzehntelang nutzten Großkonzerne und Vermögende den Staat systematisch für ihre Interessen: Sie ließen ihre Lobbyisten Gesetze schreiben, profitierten von staatlicher Infrastruktur, kassierten Subventionen und Steuererleichterungen. In Krisenzeiten rettete sie der Staat mit Milliardenhilfen.
Die globale Durchsetzung ihrer Wirtschaftsinteressen zeigt dabei das wahre Gesicht dieses Systems: IWF und Weltbank werden als Erpressungsinstrumente eingesetzt, um Länder durch Kredite in die Abhängigkeit zu treiben. Widerspenstige Regierungen werden durch inszenierte "Farbenrevolutionen" gestürzt oder durch Wirtschaftssanktionen in die Knie gezwungen. "Economic Hit Men" setzen Konzerninteressen mit allen Mitteln durch - von der Verschuldung durch überdimensionierte Infrastrukturprojekte bis zur direkten Erpressung von Politikern. Wo es um Ressourcensicherung geht, werden Bürgerkriege geschürt und "genehme" Regierungen installiert.
Besonders deutlich wird dieses Zusammenspiel von Staat und Großkapital am Beispiel der Tech-Milliardäre und ihrer Konzerne. Sie profitieren von einem kompletten staatlichen Ökosystem: geheimdienstliche Infrastruktur mit Datenzugriffen und Sicherheitskooperationen, militärische Strukturen mit lukrativen Aufträgen und Entwicklungspartnerschaften, politische Macht durch maßgeschneiderte Marktregulierung und internationale Handelsabkommen. Das Kartellrecht wird für sie selektiv angewendet, ihr "Too big to fail"-Status sichert staatliche Unterstützung in Krisenzeiten. Diese Unternehmer sind keine "Self-made"-Milliardäre in einem "freien Markt", sondern Profiteure eines komplexen staatlich-privatwirtschaftlichen Machtsystems. Von wegen freier Handel - hier regiert das Recht des Stärkeren.
Und hier zeigt sich die komplette Realitätsferne der libertären Position: Sollen wir ernsthaft glauben, dass sich diese gewachsenen Machtstrukturen, diese multinationalen Konzerne, ihre Netzwerke und ihr Einfluss plötzlich in Luft auflösen, nur weil Libertäre den 'freien Markt' ausrufen? Das ist bestenfalls naiv, wenn nicht bewusste Augenwischerei. Die aufgebauten Monopole, die Konzernmacht, die globalen Abhängigkeitsstrukturen - all das bliebe bestehen, nur ohne demokratische Kontrolle.
Doch jetzt, wo die Vermögensverteilung extreme Ausmaße erreicht hat, wird plötzlich die libertäre Karte gezogen. Der Staat soll weitgehend verschwinden - mit einer bezeichnenden Ausnahme: Das Eigentumsrecht, also der Schutz der angehäuften Vermögen, soll bleiben. Sozialstaat, Arbeitsschutz, öffentliche Daseinsvorsorge? Alles überflüssig, so die neue Doktrin. Was uns hier als "Freiheit" verkauft wird, wäre in Wahrheit brutaler und zerstörerischer als alles, was wir bisher unter neoliberaler Politik erlebt haben.
Die Konsequenzen wären verheerend: Ohne demokratische Kontrolle würden Konzerne ihre Macht noch weiter ausbauen. Private Sicherheitsdienste würden zu Konzernarmen, bestehende Monopolstellungen sich verfestigen. Wer krank, arbeitslos oder alt wird, stünde vor dem Nichts. Es wäre die Rückkehr zu einem modernen Feudalismus - mit Konzernen statt Adel an der Spitze.
Diese Ideologie als 'Freiheit' zu verkaufen, ist zynisch. Es ist der Versuch, erst die Leiter staatlicher Unterstützung und Gewalt zu nutzen und sie dann für alle anderen wegzuziehen. Ein klassisches 'Zieh die Brücke hoch'-Manöver der bereits Privilegierten.
Die Realität globaler Märkte zeigt: Ohne starke demokratische Institutionen dominieren schlicht die Stärkeren. Der Ruf nach dem 'freien Markt' ist damit keine Vision der Freiheit, sondern ein Programm zur Zementierung bestehender Machtverhältnisse. Im Vergleich zu dieser radikalen Agenda erscheint der Neoliberalismus tatsächlich wie ein zahmes Kätzchen - der Libertarismus wäre ein ausgewachsenes Raubtier, das die letzten Reste sozialer Ordnung zerfetzen würde. Diesem gefährlichen Irrweg müssen wir entschieden entgegentreten - im Interesse einer freien und gerechten Gesellschaft.
Nachtrag: Die ethische Dimension des Libertarismus
Die wahre Brutalität dieser Ideologie zeigt sich erst, wenn man ihre praktischen Konsequenzen zu Ende denkt: Menschen ohne ausreichende finanzielle Mittel würden schlicht von grundlegender medizinischer Versorgung ausgeschlossen - ein faktisches Todesurteil für viele Kranke. Kinder aus armen Familien blieben ohne jede Bildungschance, verdammt zu einem Leben in Armut. Alte Menschen ohne ausreichende private Vorsorge müssten buchstäblich bis zum Umfallen arbeiten oder wären der Gnade privater Almosen ausgeliefert. Dies wäre kein schneller Tod durch direkte Gewalt, sondern ein jahrzehntelanges Sterben auf Raten durch Armut, Krankheit und Hoffnungslosigkeit - ein elendes Dahinvegetieren am Rande einer Gesellschaft, die sich ihrer sozialen Verantwortung entledigt hat.
Diese Form struktureller Gewalt wäre in ihren Auswirkungen sogar noch perfider als direkte physische Unterdrückung, weil sie ihre Opfer langsam zermürbt und dabei noch den Anschein von "Freiwilligkeit" wahrt. Sie würde Millionen Menschen in moderne Formen der Leibeigenschaft zwingen, wo die vielgepriesene "Freiheit" des Marktes nur die Freiheit wäre, sich zwischen verschiedenen Formen der Ausbeutung zu entscheiden - arbeiten unter unmenschlichen Bedingungen oder verhungern.
Angesichts dessen stellt sich die erschreckende Frage: Wie kann ein denkender Mensch, ausgestattet mit Verstand, moralischem Kompass und ethischem Bewusstsein, eine solche menschenverachtende Ideologie unterstützen? Wie kann man die damit verbundene massenhafte Verelendung, das systematische Leid und die Zerstörung menschlicher Potenziale auch nur ansatzweise rechtfertigen? Die Geschichte des 19. Jahrhunderts hat uns die verheerenden Folgen eines ungezügelten Kapitalismus bereits vor Augen geführt - Kinderarbeit, 16-Stunden-Tage, keinerlei soziale Absicherung. Der Libertarismus würde uns direkt in diese Barbarei zurückführen, nur diesmal global und mit moderneren Mitteln.
Die österreichische Schule und ihre modernen Anhänger verpacken diese zutiefst unmenschliche Agenda in akademisch klingende Theorien von "freien Märkten" und "Eigenverantwortung". Doch im Kern propagieren sie ein System, das in seiner praktischen Auswirkung auf Menschenleben noch zerstörerischer wäre als viele andere menschenfeindliche Ideologien der Geschichte - weil es seine Opfer nicht erschießt, sondern sie über Jahre und Jahrzehnte systematisch zermürbt, ihrer Würde beraubt und ihrer Lebenschancen beschneidet. Dass solch sozialdarwinistisches Gedankengut im 21. Jahrhundert noch immer - oder wieder verstärkt - Anhänger findet, ist mehr als ein Alarmsignal. Es ist eine Bankrotterklärung des humanistischen Anspruchs unserer Gesellschaft.
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